Der Pyrmonter Kurgast
175
gewinde gehen über die enge Straße, grüne Maien stehen vor den Türen
der Häuser. Die gehen mit ihrem Giebel nach der Straße, zeigen schönes
altes Fachwerk in kräftigen Farben, und blitzblanke Fenster mit weißen
Gardinen. Vor jedem Hause nach der Straße ein mäßiger Misthaufen in
hoher Steineinfassung, ebenfalls mit Maien geschmückt. In der Hauptgasse
des Städtchens das stattliche Rathaus, der Stolz Schwalenbergs, ein Bau,
der noch aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt, mit geschnitzten bunten
Holzfiguren vor dem reichen Fachwerk. Drinnen eine Ratsstube im Zeichen
der Rose, des Lippischen Wappens, während überall daneben der gelbe Stern
im roten Grunde zu sehen ist, auf dessen Zacke ein schwarzes Vöglein sitzt,
das naive Wappen von Schwalenberg. Bismarcks Dankschreiben für die
Ehrenerklärung zum Lippischen Pürger hängt in schöner Ausstattung an der
Wand und die Wappen aller Lippischen Städtchen, ich weiß nicht, ob es
sieben sind, oder noch eins mehr, daneben. Auch das Rathaus ist geschmückt,
und in seiner Nähe hat man an einem Vorbau gar zwei über lebensgroße
ungerahmte Leinwandten mit den Bildern des Kaisers und seines Groß—
baters ausgehängt. Die Straßen sind fast leer, denn in halber Höhe der
Burg ist ein mächtiges Zelt aufgebaut, in dem die Einwohner des ganzen
Städtchens Platz haben. Hier und da sieht man sie auch in Trupps den
Berg emporsteigen.
Das große Gastzimmer im Lippischen Hof ist dämmerig und leer. Das
hübsche Mädchen, dem man es ansieht, daß es die Nacht hindurch getanzt
hat, trägt den bestellten Eierkuchen, der köstlich nach Speck duftet, vor das
große Ledersofa, von dem eine angenehme Kühle ausgeht. Irgend ein un—
glücklicher Maler, der seine Zeche nicht bezahlen konnte, hat die Wände mit
Riesenbildern der Lippischen Burgen geschmückt. Die Schwalbenburg zeigt
sich in ihren verschiedenen Altersstufen, und ich sehe, daß jedes Jahrhundert
ihr einen ihrer Flügel oder ihrer Türme geraubt hat, bis zuletzt auch die
Mauer entschwunden ist. Dafür erfahre ich, daß neuer Glanz ihr winkt,
denn die Fürstin-Witwe von Lippe läßt sie ausbauen, um dort mit ihren
Töchtern zu wohnen. Neues Leben wird auf dem Schwalbenberg einziehen,
und wieder muß ich denken, wie kostbar in kurzem solche Einsamkeiten werden,
wenn die Möglichkeit, aus der bunten Vielheit in die Stille zu gehen, schwerer
und schwerer wird.
An den großen Baulichkeiten der Domäne vorbei, gehe ich nach dem
Wald zurück. Überall ist hier die Domäne die Hüterin der Fruchtbarkeit
des Landes. Diese kleinen Orte, die in die Täler gebaut sind, scheinen
alle Siedlungen, deren Gedächtnis, sich bis in die fernste Vergangenheit erstreckt.
Ich denke an die Meiereien Karls des Großen, die ich im Odenwald gefunden
habe. Bei solchen Wanderungen lernt man die Vergangenheit verstehen.
Auf einem Richtwege, der noch reichlich Zeit braucht, geht es nach