Full text: Der Pyrmonter Kurgast (1914, Nr. 11)

Der Pyrmonter Kurgast. 
Bad Pyrmont, den 25. Juli 1914. GSeft 14. 
Pyrmonter Briefe.“) 
(Schluß.) 
Während der Alte noch sprach, lenkte ich meine Schritte um die 
Kirche herum, und hier bot sich mir ein überraschender Anblick. Entsinnen 
Sie sich des seltsamen Eindruckes, den wir am Allerseelentag auf dem 
Pére La Chaise hatten, als tausende von Lichtlein auf den Gräbern 
brannten? Hier brannten keine Lichtlein, aber zu Hunderten, ja zu 
Tausenden leuchteten mir hier weiße Narzissen entgegen. Auf wohl er— 
haltenen Gräbern, auf halb verfallenen, auf ganz versunkenen, in den Wegen, 
im Rasen, an der Mauer entlang, überall waren sie aufgeschossen und schauten 
mit ihren seltsamen Blumenaugen mich geisterhaft an. Ich saß auf der 
niederen Kirchhofsmauer und konnte mich von dem Anblick nicht trennen: 
als ob alle die Seelen und Seelchen der Verstorbenen, die hier seit Jahr⸗ 
hunderten ruhen, heraufgekommen waren, um noch einmal die Erde in ihrer 
Pracht und Schönheit zu sehen. 
Ja, in ihrer Pracht und Schönheit! Denn wunderbar ist der Blick 
von hier ins Land. Hoch oben auf dem Kirchhof steht ein großes Kreuz, 
von seinem Sockel aus beherrscht der Blick das ganze Tal. Drüben sieht 
man in eine Schlucht, von der aus ein Fahrweg zu dem terrassenartig auf⸗ 
steigenden Hermannsberge führt. Dunkler Tannen- und lichterer Laubwald 
wechseln ab, ein bläulicher Dunst liegt über dem Ganzen und Wolkenschatten 
wandern an den Hängen entlang. Rechts jenseits der üppigen Wiesen und 
reichen Felder liegt Pyrmont, wie dicht an die Berge gedrängt, der schlanke 
Kirchturm im Sonnenlicht funkelnd. Kein Laut dringt hier herauf in diesen 
Kirchhofsfrieden, tiefe Stille, und schwer und massig liegt das Kirchlein 
vor mir mitten in dem geisterhaften, berauschende Düfte ausströmenden 
Narzissenmeer. — Ich hatte Gelegenheit, am späten Abend mit einem Wagen 
nach Pyrmont zurückzufahren. Jetzt lag auf den Wiesen, die ich am Nach— 
mittage durchwandert hatte, dichter Nebel, aus denen sich die Büsche und 
Bäume gespensterhaft, wie in einem Meer schwimmend, erhoben. Zuweilen 
lösten sich Schleier aus dem wallenden Nebelmeer und schwebten wie im 
Reigen um Busch und Baum: Erlkönigs Töchter! Und durch den Nebel 
schimmerten rötlich die Lichte von Pprmont. Wie im Traum zogen diese 
Bilder an mir vorüber, und versonnen und verträumt gelangte ich heim. — 
*) Siehe auch Heft 10 dieser Zeitschrift
	        
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