Full text: Der Pyrmonter Kurgast (1914, Heft 8)

126 
Der Pyrmonter Kurgast 
Selbstverständlich ist er der Erste, sind doch noch zwei Stunden bis zur 
Vorstellung. Der Schlüssel seiner Schminkschatulle klirrt beim Aufsperren 
so seltsam, als wolle er ihm zuflüstern: „Zum ersten Mal.“ Und dieses 
„Zum ersten Mal“ klingt in ihm fort. Jede Bewegung, jeder Blick, jedes 
Geräusch scheint den Rhythmus dieser drei Worte in sich zu tragen. 
„Zum ersten Mal!“ Was galt es nicht alles zu überwinden, um bis 
hierher zu gelangen. Familienkämpfe mit dem „Verlorenen Sohn“, der 
trotz aller Beschwörungen, Drohungen, Klagen immer und immer wieder auf 
seinem Entschluß beharrte, bis man das Sorgenkind schließlich achselzuckend 
aufgab. Dann die Studienzeit mit all' ihrer ermüdenden Kleinarbeit, die 
Handwerksregeln seiner Kunst zu erlernen: Organ und Zunge, Arme und 
Beine zu gefügigen Dienern zu machen, Gehen und Stehen und Sprechen 
zu lernen. Wenn da nicht die Peitsche des Ehrgeizes, die Sehnsucht zur 
Kunst getrieben hätte, diese Titanenarbeit der Geduld hätte ihn fast mürbe 
gemacht. Dann der erste, bittere Zweifel an sich selbst beim Studieren der 
ersten Rolle, die Unzulänglichkeit der technischen Mittel, sein Empfinden 
sichtbar zu machen. Und darnach Stunden, Tage der rasendsten, ver— 
weifelsten Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. — — Vorbei! Diese Stufe 
ist erklommen. 
Mechanisch knipst er seine Schminklampe an, nimmt eine Teintstange 
zur Hand und beginnt sich zu schminken. Aber die noch für ihn unberechen— 
baren Farben der Schminke bringen ganz andere Wirkungen hervor als er 
denkt. Nach Verlauf einer halben Stunde sieht er mit den dicken Falten 
und den bunten Farben einem Orang-Utan ähnlicher als einem Herzog, der 
er doch ab 74,2 Uhr sein soll, sein muß. Was tun?? Da kommt ein 
Kollege. Der Schminkkünstler wagt garnicht, sich umzudrehen. Aber der 
Andere sieht im Spiegel das Gesicht des Debutanten — und lacht, lacht, 
lacht endlos, daß sich der Unglückselige zehn Klafter unter die Erde wünscht. 
Aber dann kommt der Spötter zu ihm, klopft ihm herzlich auf die 
Schulter: „Aller Anfang ist schwer, Kleiner! Nun geben Sie mir mal Ihre 
Schminkstange und wenden Sie mir Ihr holdseliges Antlitz zu.“ Und er 
fängt an, ihn menschlich zu machen. 
Allmählich kommen die Übrigen. Der Schneider bemüht sich, den 
Debutanten in seine Rüstung und sein Kostüm zu stecken. Leicht ist das 
nicht. Das Lampenfieber hat den unglückseligen Anfänger mit seiner ganzen 
Riesenkraft gepackt. Er schlüpft zehnmal in den falschen Ärmel, scheint auch 
nicht begreifen zu können, daß man ein Schwert an der linken Seite trägt 
und eine Perücke auf dem Kopf und nicht in der Hand. Da klingelt es 
in den Garderoben, noch fünf Minuten bis zur Vorstellung. „Fertig werden, 
nur fertig werden.“ Noch einen Strumpf anziehen und sich in einen Stiefel 
hineinquälen und er ist's. Ja, allbarmherziger Himmel, wo ist denn der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.