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Der Pyrmonter Kurgast
Selbstverständlich ist er der Erste, sind doch noch zwei Stunden bis zur
Vorstellung. Der Schlüssel seiner Schminkschatulle klirrt beim Aufsperren
so seltsam, als wolle er ihm zuflüstern: „Zum ersten Mal.“ Und dieses
„Zum ersten Mal“ klingt in ihm fort. Jede Bewegung, jeder Blick, jedes
Geräusch scheint den Rhythmus dieser drei Worte in sich zu tragen.
„Zum ersten Mal!“ Was galt es nicht alles zu überwinden, um bis
hierher zu gelangen. Familienkämpfe mit dem „Verlorenen Sohn“, der
trotz aller Beschwörungen, Drohungen, Klagen immer und immer wieder auf
seinem Entschluß beharrte, bis man das Sorgenkind schließlich achselzuckend
aufgab. Dann die Studienzeit mit all' ihrer ermüdenden Kleinarbeit, die
Handwerksregeln seiner Kunst zu erlernen: Organ und Zunge, Arme und
Beine zu gefügigen Dienern zu machen, Gehen und Stehen und Sprechen
zu lernen. Wenn da nicht die Peitsche des Ehrgeizes, die Sehnsucht zur
Kunst getrieben hätte, diese Titanenarbeit der Geduld hätte ihn fast mürbe
gemacht. Dann der erste, bittere Zweifel an sich selbst beim Studieren der
ersten Rolle, die Unzulänglichkeit der technischen Mittel, sein Empfinden
sichtbar zu machen. Und darnach Stunden, Tage der rasendsten, ver—
weifelsten Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. — — Vorbei! Diese Stufe
ist erklommen.
Mechanisch knipst er seine Schminklampe an, nimmt eine Teintstange
zur Hand und beginnt sich zu schminken. Aber die noch für ihn unberechen—
baren Farben der Schminke bringen ganz andere Wirkungen hervor als er
denkt. Nach Verlauf einer halben Stunde sieht er mit den dicken Falten
und den bunten Farben einem Orang-Utan ähnlicher als einem Herzog, der
er doch ab 74,2 Uhr sein soll, sein muß. Was tun?? Da kommt ein
Kollege. Der Schminkkünstler wagt garnicht, sich umzudrehen. Aber der
Andere sieht im Spiegel das Gesicht des Debutanten — und lacht, lacht,
lacht endlos, daß sich der Unglückselige zehn Klafter unter die Erde wünscht.
Aber dann kommt der Spötter zu ihm, klopft ihm herzlich auf die
Schulter: „Aller Anfang ist schwer, Kleiner! Nun geben Sie mir mal Ihre
Schminkstange und wenden Sie mir Ihr holdseliges Antlitz zu.“ Und er
fängt an, ihn menschlich zu machen.
Allmählich kommen die Übrigen. Der Schneider bemüht sich, den
Debutanten in seine Rüstung und sein Kostüm zu stecken. Leicht ist das
nicht. Das Lampenfieber hat den unglückseligen Anfänger mit seiner ganzen
Riesenkraft gepackt. Er schlüpft zehnmal in den falschen Ärmel, scheint auch
nicht begreifen zu können, daß man ein Schwert an der linken Seite trägt
und eine Perücke auf dem Kopf und nicht in der Hand. Da klingelt es
in den Garderoben, noch fünf Minuten bis zur Vorstellung. „Fertig werden,
nur fertig werden.“ Noch einen Strumpf anziehen und sich in einen Stiefel
hineinquälen und er ist's. Ja, allbarmherziger Himmel, wo ist denn der