Full text: Der Pyrmonter Kurgast (1914, Heft 8)

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Der Pyrmonter Kurgast 
für die Kreise, die zunächst sie umgaben, nein, für Alle. Z. B. so habe 
ich mit eigenen Ohren gehört, daß sie einem kranken Kaufmann aus einer 
der Boutiquen der großen Allee, der kürzlich verwittwet war und zwei kleine 
blasse Mädchen neben sich stehen hatte, nachdem sie mit milder Teilnahme 
nach seinem Ergehen gefragt, Eselinnenmilch zu trinken anriet, und auf seine 
Entgegnung, daß diese ihm nicht erreichbar, sagte: „Da freue ich mich, Ihnen 
aushelfen zu können; Ich nehme immer nur wenige Tropfen Eselinnenmilch 
zu meinem Stahlbrunnen, und ich werde Ordre geben, daß jeden Morgen, 
sowie ich fertig bin, die Eselin zu Ihnen gebracht wird.“ — Mußte der 
Mann nicht schon gesund werden von solchem Wort aus solchem Munde? 
Frau Exzellenz von Voß schüttelte bei derartigen Herablassungen das stolze 
Haupt, daß der Paradiesvogel darauf bebte, und warf den Türkischen Purpur— 
shawl in zornige Falten. Die junge Kurprinzeß von Hessen, eine zartsinnige 
Natur und später Meisterin des Pinsels, sah sich den Gegensatz der Gestalten 
mit Künstlerauge an; eine anmutige Frau aber, die neben der Exzellenz stand, 
sprach begütigend zu ihr: »Mais que voulez? Vous? Pour éêtre Reine 
a⸗t⸗ elle donc perdu le droit d'être un ange?« — Und gewiß, ich glaubte 
die Engelsflügel rauschen zu hören. 
Wem es Wunder nehmen sollte, daß noch nicht Vorgestellte Platz finden 
durften in solcher Nähe der Majestät, um ihre Worte vernehmen zu können, 
dem zur Nachricht, daß die Hauptallee von Pyrmont eine dreifache ist, daß 
zudem der Hofzirkel, wenn er ausnahmsweise abgeschlossen werden sollte, in 
der Allee oder im Ballsaal, nur von rosenfarbenen Atlasbändern seine Be— 
grenzung erhielt, und daß etwa der Ravensberger Bauer — deren seit 
Jahrhunderten lange Reihen in der Pyrmonter Allee sich befanden, und die, 
wie ich gern gewahrte, den Heilquell nicht vergessen haben — seiner Königin 
fast eben so nahe treten konnte wie die vorstellunasfähige Freifrau und 
ihre Töchter. 
Der Abend mit seinen Lindendüften war so zauberhaft schön, daß selbst 
die Gräfin v. Voß der Majestät nicht wehren konnte oder wollte, im Freien 
zu bleiben, bis die Dämmerung fast Nacht geworden; dann aber, Arm in 
Arm mit der anmutigen Großfürstin, wandelte sie ihrer Wohnung, dem 
großen Badehause am Brunnenplatz, zu; die Menge folgte und wir mit der 
Menge; ich sah, wie ein schöner Knabe, zwei Doppelkerzen auf Silber— 
Armleuchtern tragend, den hohen Frauen entgegenschritt und dann rückwärts 
gehend ihnen vorleuchtete. 
Die große Allee erschien mir 1855 fast ganz wie sonst um die gleiche 
Stunde; dieselben Linden, dieselben Säle, dieselben Boutiquen; aus dem 
Fenster desselben Hauses, wo ich 1806 gewohnt, und jetzt glücklich genug 
gewesen, wieder ein Unterkommen zu finden, war es nun vollends ganz das 
alte Pyrmont: Keine der Neubauten brauchte, wenn ich nur etwas nach
	        
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