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und sich abgekapselt hat, ist imstande, Massen von Tuberkelbazillen
zu verstreuen und die Luft damit zu überschwemmen. Im Freien
macht das nichts aus; die stetigen Strömungen der Atmosphäre sorgen
dafür, daß wir selbst in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Tuber⸗
kulösen nur in Ausnahmefällen die von ihm verseuchte Luft ein—
atmen. Anders ist es aber in einem geschlossenen Raum. Da sind die
Mitbewohner stets darauf angewiesen, ihren gewöhnlich nur knapp
zubemessenen Teil von der gemeinsamen Luft zu entnehmen, und es
ist ausgeschlossen, daß sie, wenn überhaupt Tuberkelbazillen ausge—
streut werden, nicht auch solche einatmen. Enge Wohnungen können
also als Vermittler des Ansteckungsstoffes von unheilvoller Bedeu-
tung sein. Ein Beispiel mag uns hierüber noch näher unterrichten.
In einem kümmerlichen Fachwerkhause der äußersten Vorstadt
bewohnt ein landwirtschaftlicher Arbeiter zwei Zimmer im Erdgeschoß.
Das eine, mit zwei Fenstern nach Süden gelegen, prunkt mit Plüsch—
möbeln und Spitzenüberzügen, einem Wandbrett über dem Sofa mit
Vasen und Makartsträußen, mit Oldruckbildern an der Wand unoͤ ge—⸗
häkelten Fenstervorhängen. Aber wie hölzerne Läden jeden Sonnen⸗
strahl vom Innern fernhalten, so versperrt ein Schlüssel jedem Ein—
dringling die Cür. Das ist das „gute“ Zimmer. Daneben tritt man
in einen 5 m langen, 4 mbreiten und 2 m hohen Raum, durch ein
nach Norden gelegenes Fenster, dem ein Schuppen das Licht weg⸗
nimmt, kümmerlich erleuchtet, mit zwei großen Betten und einem
kinderbett; ein großer eiserner Ofen dient außer als Wärmespender
zugleich zur Zurichtung der Mahlzeiten. Stricke spannen sich um ihn
herum, mit Wäsche behangen. Die schmierige Tapete ist zerfetzt, und
in den Ecken und an den Wänden wuchern Schimmelpilze in breiten
Rasen. hier hausen der 44jährige hustende Vater, seine Frau — es
ist die dritte —, ein 16jähriger Sohn aus der ersten Ehe, der eben⸗
falls hustet, eine 12jährige Tochter aus der zweiten Ehe, die in ihrer
Sschmalbrüstigkeit aussieht wie eine Reunjährige, und ein von der
dritten Frau in die Ehe mitgebrachter 11jähriger Stiefsohn. Von
den fünf Personen ist nur die Frau noch nicht tuberkulös; aber wie
lange wird sie noch gesund bleiben? Ihr vorher ganz gesunder Sohn
ist bereits angesteckt. Forschen wir weiter, so vernehmen wir, daß
die erste Frau sowie zwei ihrer Töchter und die zweite Frau ebenfalls
in derselben Wohnung an Tuberkulose gestorben sind. Es ließ sich
leicht feststellen, daß der Vater die Krankheit bereits seit 20 Jahren