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nüheres sagen. In zwei Dachkammern eines Großstadthauses wohnt
die achtköpfige Familie eines Tagelöhners. Der Vater ist von fruh
bis spãt auf der Arbeit, die Mutter hat einen Aufwarteposten, der sie
bis gegen Mittag vom hause fernhält, und dem ältesten, zehnjährigen
Löchterchen ist, wenn sie nicht in der Schule weilt, die Obhut über die
fünf jüngeren Geschwister im Alter von 7, 56, 4, 3 Jahren und 5 Mo—⸗
naten anvertraut. In ihrer Abwesenheit sieht eine Nachbarsfrau von
zeit zu Zeit nach den Rindern. Der Säugling, den seine Mutter vier
Wochen lang gestillt hatte, bis ihre Tätigkeit ihr das verbot, liegt, da
seine Geschwister oft im Hofe spielen, bisweilen stundenlang allein.
Es war ein heißer Sommer; bereits Ende Juni setzte die Hitze ein, und
der Kufenthalt in der nach Südosten gelegenen Dachwohnung wurde
unerträglich. Cine besondere Küche fehlte, und es mischten sich auch
noch die von der Nahrungsmittelzubereitung herrührenden Dünste
der Stubenluft bei. Mitte Juli erkrankte der Säugling, der bisher
seine Milch gut vertragen hatte, an heftigen Durchfällen und Er—
brechen; auch Krämpfe stellten sich ein. Gleichgültigkeit und das
Vertrauen auf Hausmittel ließ die Mutter zunächst ärztliche Hilfe ver—
schmähen; als das Kind nach zwei Tagen völlig verfiel, stand der erst
jetzt herbeigeholte Arzt vor einem Sterbenden. Er erfuhr, daß die
Familie feit drei Jahren diese Wohnung innehatte, daß vor einem
Jahr ein Säugling von drei Monaten, vor zwei Jahren ein einmona⸗
tiges Kind während derselben Jahreszeit und unter ähnlichen Erschei⸗
nungen verstorben war. Er konnte nur den Kat geben, die der hitze
herartig ausgesetzte Wohnung mit einer anderen zu vertauschen.
Die Säuglingssterblichkeit war noch vor vierzig Jahren so groß,
daß in Berlin von 100 Lebendgeborenen 30 im ersten Lebensjahre
tarben, ein Prozentsatz, der 1900- 10 auf 16 heruntergegangen war.
Weitaus die meisten Todesfälle fielen in die heißen Monate, und in
Jahren, in denen die Hitze sich weniger bemerklich machte als in an⸗
deren, gingen auch weniger Säuglinge zugrunde; es wurde sogar
festgestellt, daß an heißen Tagen Sterblichkeit und Temperatur sich
die Wage hielten. Die häufigkeit des Sommertodes der Säuglinge
in den Städten übertraf bei weitem die auf dem Lande; die Groß
städte waren besonders heimgesucht, und genauere Erhebungen er ⸗
gaben, daß die Viertel der Wohlhabenden verschont blieben, aber in
den schmalen, winkligen, von Winden nicht bestrichenen Straßen, den
alten, eingebauten häusern mit ihren engen höfen, den himmelan—