— 91 —
zuführen. Tissis berichtet von einer 43jährigen Srau, die längere
Zeit an Angstträumen litt, sonst aber sich gesund fühlte; der Urzt
stellte jedoch eine beginnende herzerkrankung fest, der sie schließlich
erlag. Bei dieser Frau sind die Angstträume bereits als Krankheits—
zeichen aufzufassen. Vor Migräneanfällen hatte Moebius einige—
mal so aufregende Träume, daß er im Schlafe weinen mußte und
weinend aufwachte.
Der erfahrene Arzt kann also aus Träumen mitunter wert⸗
volle Schlüsse auf die Art der Krankheit ziehen. Freud hat die
Traumdeutung bei Nervenkranken zu einem förmlichen System aus-
gebaut. Die psychoanalytische Traumdeutung beruht auf
dem Verfahren, daß dem Patienten nicht der Traum als Ganzes, son⸗
dern zerstückt und in seine Teile zerlegt gegenübergestellt wird. Jede
Cinzelheit, und mag es der unwesentlichste Nebenumstand sein, wird
zu den Erlebnissen des Patienten in Beziehung gesetzt, jeder Zu⸗
fammenhang bis ins kleinste hinein verfolgt. Rus diesen Zusammen-
hängen werden dann Fingerzeige gewonnen, wie der Kranke zu be—
handeln ist. Die pfychoanalytische Traumdeutung erfordert eine
monatelange Berührung mit dem Patienten. Der Arzt muß nicht
nur in sein äußeres Leben bis in alle Einzelheiten zu dringen suchen,
auch die tiefsten Seiten seines Seelenlebens müssen offen vor ihm da—
liegen Der Patient darf ihm nichts verhehlen, auch die verborgensten
sexuellen Regungen muß er dem Arzte mitteilen, wenn er richtig
beurteilt werden will. Alles, was ihm während des Zusammenseins
mit dem Arzte einfällt, ob es ihm als Ernst oder als Blödsinn erscheint,
muß er offenbaren. Er gerät schließlich in völlige geistige Abhängig—
keit vom Arzte, der auf diese Weise eine Macht über ihn gewinnt, die
ihn in den Stand setzt, seelische Unregelmäßigkeiten und geistige Ent—
gleisungen mit Leichtigkeit zu regein. Besonders die ersten Träume
während der Behandlung sind für den zukünftigen Verlauf von be—
sonderer Wichtigkeit. — Verallgemeinert kann die Freudsche Me—
thode nie werden. Demjenigen Arzte jedoch, der sie zu benutzen ver—
steht, bietet sie eine Gelegenheit, seelisch auf einen Patienten einzu—⸗
wirken, wie sie günstiger kaum gedacht werden kann.
25