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Auch im Wachen können wir uns in unsern Vorstellungen um Jahr⸗
zehnte zurückversetzen, können uns in die fernsten Gegenden, in die
größte Tiefe der Erde und in die höchsten höhen des üthers von
unsern Gedanken tragen lassen, aber wir erleben das alles nicht so
vie im Traum; im Wachen stehen wir den Vorstellungen objektiv
zegenüber, im Traume subjektiv.
Wie wir in bezug auf Kaum und Zeit das Maß im Traume ver⸗
oren haben, so macht sich auch in vielen anderen Dingen eine Maß—
losigkeit, eine Übertreibung geltend. Wie hebbel sich aus—
drückt, legen wir im Traum ein anderes Maß an als im Wachen.
Dder Träumende leidet an Größenwahn. nNicht nur sich selbst ver—
zrößert er zuweilen beträchtlich: er sieht sich in überlegener, herr—⸗
schender Stellung, als König, als Feldherrn, manchmal auch als Gott—⸗
heit; er unterstreicht auch die Eigenschaften aller Persönlichkeiten,
a aller Gegenstände, mit denen er in Berührung kommt. Das Un—
cheinbare wird häßlich, das Große riesenhaft, das Kleine zwergartig;
ochönes erscheint als überirdisch; wenn wir fallen, wird der Boden
uicht erreicht; wenn wir schwimmen, liegt das Ufer in nebelhafter
Ferne. Die Phantasie geht ins Unendliche.
Es kommt auch im Wachen vor, daß wir winzige Eindrücke als
übergroß empfinden. Maschinenschlosser, denen ein Stahlstäubchen
in das Innere des Auges geschleudert ist, geben an, daß sie die Emp⸗
findung gehabt hätten, als ob ihnen ein großer Gegenstand, ein
Stein oder etwas ühnliches ins fuge geflogen wäre. Daraus kann
mnan sehen, daß man auch im Wachen erhebliche Gesichtstäuschungen
in bezug auf die Größe eines Gegenstandes erleben kann.
Die Maßlosigkeit im Traume in bezug auf Raum, Zeit und
iußere Verhältnisse kann man leicht auf eine Schwäche im Urteil
zurückführen, die sich in mannigfaltiger Hinsicht geltend macht. Wir
neigen im Traume dazu, alles, was uns angeht, für ausgezeichnet
zu halten. Wir sind vollendete Kedner, vortreffliche Musiker, hin⸗
reißende Schauspieler, müssen aber später im Wachen den Ropf schüt⸗
teln über das, was wir im Traume geleistet haben. Oft freuen wir
uns im Traume über unsere geistreichen Bemerkungen, die allge⸗
meines Aufsehen erregen, und wundern uns, wenn wir sie bei Tages—
licht besehen, wie wir solchen Unsinn reden konnten. Gewöhnliches
vird für hervorragendes gehalten. Es fehlt die Kritik; im Wachen
tauchen wohl gelegentlich auch Zeichen einer Urteilsschwäche auf, zu⸗
mal, wenn die Angelegenheit unsere eigene Persönlichkeit betrifft.
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