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heit! Viele tausend Beispiele beweisen uns das heute schon. Aller—
dings gehört dazu der eiserne Wille des Verletzten neben der ziel—
bewußten Tätigkeit des ärztlichen Beraters. Dieser Wille ist der
vollendende Helfer des Verletzten. Ist der größte Helfer sein eigener
Zellenstaut, der ihm, ohne daß er es merkte und ahnte, die Organe
und Gewebe verheilte, die äußere Heilung brachte, ist der zweite
helfer der Arzt, der dem Zellenstaat beisprang, um die Heilung,
soweit es in Menschenkräften steht, in die rechte Bahn zu lenken und
möglichst günstigen Enderfolg zu sichern, so ist der dritte der Wille
zum Ziel, den der Verletzte selbst entwickeln muß, der eiserne Wille,
die ihm verbliebenen körperlichen Mittel seiner Berufstätigkeit so weit
anzupassen, daß er sich nicht als geduldeter Krüppel, sondern wieder
als tätiges Glied der menschlichen Gesellschaft fühlen kann. Dieser
Wille ist der letzte, aber der allergrößte und wichtigste Förderer.
Nur dieser harte, unbeugsame Wille, den Weg aus dem Lazarett zur
Arbeit wiederzufinden, nur diese freiwillige Beugung unter den einen
Gedanken, seine Glieder wieder tauglich zu machen zur Arbeit, nur
dieser Wille führt zum Sieg.
Es stehen hindernisse im Wege. Da ist das wohlgemeinte Mit—
leid der vielen auf der Straße und bei jeder Bewegung, das den sich
reckenden Cigenwillen immer wieder duckt und bricht und das schlum—
mernde, nagende Gift der Bitterkeit immer aufs neue in dem Ver—
letzten weckt. Dieses wehleidige Bedauern wirkt wie ein kalter Frost
auf das warme Vertrauen zwischen Arzt und Verletztem, der ihn
immer aufs neue über den eigenen Zustand nachgrübeln und diesen
vielleicht sogar für schlimmer halten läßt, als er in Wirklichkeit
ist. Dann kommen die qualvollen Stunden der Verzweiflung: „Ich
bin ein unbrauchbarer Krüppel! Wie werde ich wieder mein Brot
verdienen können? Oh, wäre ich tot!“ Es ist schwer, den so Ver—
zweifelnden wieder aufzurichten, Mut und Lebenslust in ihm wach—
zuhalten und das ersehnte Siel als erreichbar hinzustellen. Aber
es gelingt durch zukunftsfrohen Zuspruch. Gelingt und muß im—
mer wieder gelingen. Gelingt besonders dann, wenn man dem Un—⸗
gläubigen Leidensgenossen vorführt, die an ihrem eigenen Leibe
Schweres erduldet, die selbst trostlos verzweifeln wollten und nun
strahlend vor Lebensmut in selbstbewußtem Stolze zeigen, daß sie er—
reicht, was sie früher für unmöglich hielten, die Neubefähigung zu
ernster Arbeit.