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Natura sanat, medicus curat! Wenn man doch die Wahrheit
dieses alten Sprichwortes ganz einsehen wollte! Die Natur heilt,
der Arzt sorgt, kuriert. Die Natur heilt, sie allein heilt, und nichts
können wir ihr im heilwerk helfen. Aber diese Naturheilung ohne
das RKurieren des Arztes hat eben ihre bedenklichen Schattenseiten.
Kurieren, überwachen, das ist die Pflicht des Arztes. Dem ZSellen—
staat dauernd auf die Finger sehen, daß keine heilung entsteht,
die später zum bösen hindernis wird. Die gewöhnlichste Form man—
gelhafter Heilung ist, daß von außen alles fest vernarbt und schön
geordnet erscheint, aber unter der Rarbe im Innern ein buntes Durch⸗
einander ungelöster oder durchaus ungenügend gelöster Aufgaben
sich findet. Das Leben geht weiter, aber die vielen Leistungen und
Derrichtungen, die das Leben erst lebenswert machen, sind in jam—
mervoller Weise gestört.
Aber — der Arzt erscheint. Er weiß aus trauriger Erfahrung,
wie weit die Machtgrenze des Zellenstaates reicht, weiß, daß dieser
in vielen Fällen zu ohnmächtiger hilflosigkeit verurteilt ist, daß
er in manchen anderen Fällen Lösungen versucht, die — an sich
zweckmäßig — in ihren Folgen durchaus unzweckmäßig und uner—
freulich sind, deren ungenügender Enderfolg später entweder über—
haupt nicht oder nur mit Mühe in seiner schädlichen Wirkung aus—
geglichen werden kann. Der Arzt erscheint und bevormundet den
zellenstaat. Taucht hinein in das Innere des verwundeten Leibes,
hält Umschau unter Geweben und Organen und entreißt dem Or—
ganismus die Herrschaft, fügt zusammen und trennt, löst und ver—⸗
einigt, wie es vorausschauendem Plane am zweckmäßigsten zur Siche⸗
rung des zukünftigen Enderfolges erscheint, macht die Zellen und
Organe seinen Zwecken untertan und bildet und formt, wie ein
Künstler gefügiges Wachs modelliert. Seine Werkzeuge sind Messer
und Zängelchen, sein Hauptwerkzeug aber der planende Kopf. Und
hat er nach sorgfältig überlegtem Plane alles ausgeführt, dann legt
er Messer und Zange beiseite und überläßt nun dem Zellenstaate
die Ausführung und Vollendung seiner Pläne. Er muß heilen. Er
muß den Willen des Arztes ausführen, die Gewebe, Knochen und
sehnen in der vorgeschriebenen Stellung fest und dauernd verbin—
den zu lebensfrischer Tätigkeit, er muß die Absichten des Arztes
zur Tat werden lassen. Der Arzt lenkt die Kräfte des CLebens und
vertraut der Heilkraft des Zellenstaates. Der eigentliche und wirk⸗