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lichkeit, ein denbender Mensch, ein „Ich“. Es gibt Menschen, die den
Teil ihres Zellenstaates, der das Denken besorgt, das Gehirn, in seiner
Tätigkeit gerichtet haben auf ein Siel, die Arbeit des Zellenstaates
aus dem Verborgenen ans Tageslicht zu ziehen — ihn bei seiner Ge—
schäftigkeit zu belauschen, nicht durch Beobachtungen am eigenen
Ceibe, sondern an dem der Mitmenschen und ähnlich lebender Tiere,
um aus den vielen, vielen Einzelbeobachtungen Gesetzmäßigkeiten
des Geschehens im Menschenleib zu finden. Es ist ihnen gelungen,
die geheimnisvollen Vorgänge im Innern des Körpers, von denen
der einzelne nichts weiß, die völlig dem Ich unbewußt sich abspielen,
zu einem Bestandteile der menschlichen Erkenntnis zu machen. In
dieser Wissenschaft ist man, wenn man die Schwierigkeiten in Be—
tracht zieht, weit gekommen und in den letzten Jahrzehnten weiter
als in Tausenden von Jahren zuvor. So weit, daß man nicht nur das
Cebensgeschehen, sondern auch die Nöte des Zellenstaates gegenüber
den Anforderungen der rohen Außenwelt erkannt hat. Daß man
auch herausgebracht hat, warum der Zellenstaat versagt. Da ging
der Mensch als Arzt einen bedeutsamen Schritt weiter. Er sagte sich,
solange der Zellenstaat den ewig wechselnden Anforderungen der
rauhen, harten Umgebung genügt, lasse ich ihn ruhig gewähren.
Kann er diese Ansprüche nicht erfüllen, und leidet der Zellenstaat Not
darunter, daß er versagt, oder muß er vielleicht gar zugrunde gehen,
wenn er eine harte Aufgabe nicht lösen kann, nun wohl, dann ist es
meine Ppflicht, ihm helfend beizuspringen. So wird der Arzt zum
schützenden Vormund des Zellenstaates. Alle ärztliche Tätigkeit ist
eine solche Bevormundung, ein Erkennen dessen, woran es fehlt,
und Ausführen dessen, woran es nottut, um die dringende Aufgabe
zu lösen. Der Zellenstaat wird nicht ausgeschaltet, seine Tätigkeit
läßt sich vom Arzte nicht ersetzen, aber er wird zum Handlanger, der
ausführen muß, was der Arzt befiehlt, und dessen Tätigkeit in der
Kichtung vor sich gehen muß, die der Arzt vorgeschrieben hat.
Glücklicherweise sind solche Radikalkuren, Opferung eines Glie—
des, um aus dem Vörper die Giftquelle zu beseitigen, da er sich selbst
nicht gegen den übermächtigen Ansturm der zerstörenden Bakterien
helfen kann, selten. Im Krieg 1870 waren sie noch die Regel. Da
mußte man Hunderte, Tausende von Gliedmaßen opfern, nur um
den Menschen am Leben zu erhalten. Wir sind eben weiter gekom⸗
men. Wir wissen heute, was damals noch nicht bekannt, wenigstens