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Das sind, wie wir schon oben gesehen haben, die Aufgaben,
die jeder kriegsverletzte Sellenstaat löäsen muß: die erste große ist
die sofortige Blutstillung, um den kostbaren Lebenssaft zu erhalten
— dazu eilt's und drängt's, sie muß in kürzester Seit gelöst sein —,
und dann die zweite, die in Gemächlichkeit betrieben werden kann:
das Zertrümmerte wieder aufzubauen, zu heilen und die ausgefal—
lenen Verrichtungen und Leistungen wieder in Betrieb zu setzen
und in das Uhrwerk des Ganzen einzufügen.
Der Zellenstaat löst diese Aufgabe. Wie er es macht, haben wir
erfahren. Aber — es geht nicht immer so glatt ab. Oft, leider allzu—
oft versagt seine Kunst vor der Größe der verlangten Aufgabe.
Wenn eine Ader getroffen wurde, so groß, daß in wenigen Augen—
blichen so viel Blut gurgelnd aus ihr quillt, daß der Körperbetrieb
stillgelegt wird, da hilft die kleine Kunst der Blutgerinnungen nicht
oder die andern RKniffe des Aderverschlusses und ihrer vorläufigen
Zustopfung. Dazu ist der Druck des sprudelnden Blutes zu gewaltig,
um sich durch solche schwächlichen hindernisse in seinem verderblichen
Strome aufhalten zu lassen. Dann gibt's für den SZellenstaat nur
eine Rettung: den Arzt. Man begleite mich ins Lazarett!
DJ —0
Grenzen der Naturheilung.
In breiten Garben flutet das warme Licht der sommerlichen
Morgensonne durch die Fenster des Lazaretts. Die neugierigen
Strahlen flimmern auf den Korridor und in die luftigen Säle, ver—
golden an der Wand des Schlafsaals die behaglichen bunten Bilder,
hüpfen lachend von dem blumengeschmückten Schränkchen auf den
blitzsaubern Fußboden und spielen um die frischen, duftig-weißen
Betten, die schon wieder zum morgenolichen Arztbesuch tadellos ge—
ordnet sind. Die Pfleglinge, die schon wieder aufstehen konnten,
haben alle das Zimmer verlassen zur Morgensäuberung und zum
wohlschmeckenden Frühstück. Nur im letzten Bette in der Ecke regt
sich's noch. Ein Verwundeter liegt drin, das Gesicht zur Wand ge—
kehrt. Er schläft nicht, er weint leise in sich hinein — mutterseelen—
allein.