Inkunabeln der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel 7%
gonnen und darin einzelne hervorragende Stücke — die deutsche Sensenschmidt-Bibel
GW 4299 etwa — in locker beschreibender Form vorgestellt. Freilich beschäftigten
ihn doch mehr die Texte, auch wohl die Provenienz und nicht so sehr die Typogra-
phie, das Bibliophile und die Antiquität, und gewiß bewegte ihn nicht so jenes doch
ehrfürchtige Interesse, das sich heute bei uns einstellt, wenn wir, sofern uns nicht die
Masse moderner Datenträger schon fühllos gemacht hat, diesen ersten Zeugnissen
des Buchdruckes gegenüberstehen.
Auch Karl Bernhardi (1799-1874), sehr zu Unrecht mehr durch sein politisches
Engagement im kurhessischen Verfassungsstreit und in der Paulskirche bekannt?
denn durch seine gelegentlich glänzenden historischen Arbeiten, Bernhardi also reiz-
ten vom Beginn seiner bibliothekarischen Tätigkeit in Kassel an (1830) alte Drucke
und nicht identifizierte Handschriftenfragmente — ähnlich wie später Lohmeyer.
Wohl noch in seiner Ägide legte man dann eine Sammlung von Fragmenten an, die
den merkwürdigen Namen Mss. Anhang erhielt, Krabbelkisten, bei deren Anblick je-
der anständige Handschriftenbibliothekar nervös wird. Bernhardi versuchte sich an
einem Fragment des Speculum naturale des Vincentius Bellovacensis (C 6253), das er
für eine Version des Horzus sanitatis hielt, ein naheliegender Irrtum, enthalten doch
beide Werke solche Darstellungen medizinischer Eigenschaften von Pflanzen, Mine-
ralien etc., ähnlich dem Circa instans. Er zählte die Zeilen und mußte dann begreif-
licherweise feststellen: Diesen Hortus sanitatis ohne Holzschnitte und 66 Zeilen enthaltend
finde ich nirgends erwähnt.
Und deswegen ist dieser Fall von allgemeinerem Interesse: Die Bibliotheken, zu
deren Inkunabelbeständen bislang Kataloge erschienen sind, verfügen in der Regel
über einen reichen Besitz, dort ist oft ein nach Tausenden zählender Fundus vorhan-
den, der zu Vergleichszwecken, typographischen und inhaltlichen, herangezogen
werden kann. In Orten wie Kassel aber, wo fast der ganze Altbestand fehlt, wo stolz
mit der Ehrenbezeichnung Inkunabel versehene Stücke nur Fragmente sind, ein Blatt,
zwei Blätter, drei, also schlicht Makulatur, da benötigt man zur Identifizierung Hilfs-
mittel mit mehr Informationen, als jetzt gemeinhin zur Verfügung stehen. Man
bekommt zwar mit Hilfe des Haeblerschen Typenrepertoriums die Type, günstigenfalls
den Drucker heraus, hat also das eine, das typographische Blatt der Schere zur Verfü-
gung. Was aber mit dem anderen, dem literarischen? Man kann nicht all die unend-
lich langen, unendlich langweiligen Summen und Sermones kennen, um die es sich oft
genug bei solchen Fragmenten handelt. Hätte man, wie es ehedem Hain und nun in
Vollendung der GW bieten, die Spalten-, die Zeilenzahl, etwa die Maße des Satzspie-
gels (was sagt schon die Angabe Fo/0?), dann gäbe es wahrlich bessere Möglichkei-
ten, auch in der bibliothekarischen Provinz erheblich weiter zu kommen. So aber
sind die lokalen Inkunabelverzeichnisse, bei denen eben alle diese Angaben fehlen,
zwar glänzende Zeugnisse der Gelehrsamkeit, aber für Identifizierungszwecke nur
bedingt von Nutzen.
Hätte Bernhardi die Incunabula scientifica von Klebs schon zur Verfügung gehabt,
wäre er mit diesem Hilfsmittel nicht weitergekommen, weil Klebs gleich den er-
wähnten örtlichen Katalogen keine typographischen und buchtechnischen Angaben
macht. Hätte Bernhardi in einem solchen Verzeichnis aber so simple Daten wie Spal-
Ex Bibl. Cassellana, S. 83 £., 122 f£., 158 ff£., 189 £ mit 192 [S. 191 und 192 sind ver-
causcht].