Full text: Die Inkunabeln in der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel

Inkunabeln der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel 
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tragen worden. Bis zur Vernichtung, vielmehr bis kurz davor (1939/40) galt in der 
LB das von Strieder aufgebaute systematische Aufstellungsschema, das sich in den 
Signaturen niederschlug, etwa 4° Med. op. 2 oder Art. Typogr. 4° 40. Nun aber stellte 
man auf akzessorische Aufstellung um mit Formattrennung: C anders als heute für 
Oktarformate, B für Quart und A für Folio; dazu kamen Jahreszahl und laufende 
Nummer pro anno. So ist in Langes Katalog auf S. 14 das Vocabularium iuris utrinsque 
des Jodocus Erfordensis, Speyer: Drach 1478 als Neuerwerbung unter der Signatur 
1940 B 52 nachgetragen, es war das 52. im Jahr 1940 im Quartformat gekaufte 
Buch. 
Nach diesem Schema signierte Frau Möller um 1960 die paar geretteten und die 
neugekauften zwölf Inkunabeln, freilich ohne Jahr und nach der heute üblichen For- 
matbezeichnung A für Folio etc. Daß dieses moderne bibliothekarische Maß: bis 
25 cm für Oktavgrößen, bis 35 cm für Quartformate etc. eigentlich überhaupt nicht 
auf alte Drucke übertragbar ist, die ihre Formate von der Vorgabe des Schöpfrah- 
mens ableiten (senkrechte Bindedrähte bei Folianten und Oktavgrößen, waagrechte 
bei Quartbänden), daß diese Größen sich nun einmal nicht nach der Bibliotheksver- 
waltungslehre, sondern nach Lust und Laune des mittelalterlichen Papiermachers 
richteten, das stiftete einige Verwirrung bei der Signaturenvergabe. Aber die Biblio- 
thekare, die in den Kriegs- und Nachkriegsjahren fast im Akkord riesige Büchermen- 
zen zu akzessionieren hatten, konnten sich nun wirklich nicht bei bibliophilen De- 
rails aufhalten; sie hatten ein Buch, das eintraf, als einen Band zu nehmen, der 
soundso groß war, also die und die Signatur bekommen mußte, ob nun Inkunabel 
oder nicht, ob nun mit senkrechten oder waagrechten Bindedrähten im Papier. So 
wurde aus manchem Folianten sozusagen von Amts wegen ein Quartband, etwa die 
Nr. 8, nur weil das Buch zwischen 26 und 35 cm groß ist. 
Der kleine Inkunabelbestand, der sein Entstehen so vielen Zufälligkeiten ver- 
dankt und dessen Schicksal in nuce geradezu ein Spiegelbild des Leidens der Kasse- 
ijer Landesbibliothek ist, diese kleine Titelmenge bietet — erstaunlich genug oder 
doch wieder charakteristischerweise — einen ganz repräsentativen Querschnitt durch 
die spätmittelalterliche Buchproduktion. Es gibt 18 theologische Texte, sechs liturgi- 
sche, sechs Bibeln, zehn juristische bzw. kanonistische, fünf literarische, vier philoso- 
phische, drei medizinische und zwei sonstige naturwissenschaftliche, dann den Ab- 
laßbrie£, den, wer mag, zur Theologie rechnen kann. Es fehlen historische Themen, 
aber sonst ist die Titelzahl pro Fach in Beziehung zur Gesamtzahl fast typisch, und 
das, obwohl der Bestand gewissermaßen ohne äußeren Einfluß, ohne lenkende 
Hand zustande gekommen ist. 
Es gibt — neben mancher Durchschnittsware, versteht sich! — außerordentlich 
interessante und wertvolle Stücke, man denke nur an die Gutenberg-Drucke und 
den Einblattdruck mit dem Dürer-Holzschnitt (Nr. 52); dennoch möchte man fast 
sagen, daß diese Handvoll Inkunabeln nicht so sehr ihres Eigenwertes, als des 
schrecklichen Schicksals wegen von Interesse sind, das sie mit und in unserer Biblio- 
thek erleiden mußten. Ein paar angekohlte Blätter, und sonst wenig mehr als die Er- 
innerung. Und doch können gerade sie und ihr Schicksal uns bewußt machen, daß 
Bibliotheken aus der Tradition leben müssen, wenn sie der Gegenwart gerecht wer- 
den wollen.
	        
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