Landgräfin Anna von Hessen 721
er berufen schien, keine Heimat bieten, so gerne er es getan hätte, und war
durch diese unglücklichen Verhältnisse zu einem Nomadenleben gezwungen,
das sich hauptsächlich zwischen Kopenhagen, Berlin, Weimar und Rumpen⹀
heim bewegte, aber auch eine Reihe weiterer für den Bildungstrieb und
Schönheitsdurst, namentlich der Prinzessin, fruchtbarer Reisen mit sich brachte.
Im Sommer 1856 reiste der Prinz im Auftrage des Kurfürsten nach
Moskau zu den Krönungsfeierlichkeiten seines Schwagers Alexanders II.,
wobei ihn der hessische Generalmajor Bernhard v. Loßberg und der Ritt⹀
meister v. Heathcote begleiteten. Die Prinzessin nahm an dieser für die
Beteiligten ungemein anstrengenden Staatsaktion nicht teil, konnte aber
im nächsten Jahre den kaiserlichen Vetter in Berlin und Glienicke begrüßen,
wo auch der Kurfürst sich einfand und an der großen Kaiserparade
über 32 000 Mann und an den Manövern bei Spandau teilnahm. Im
Sommer desselben Jahres 1857 weilte das Prinzenpaar in Rumpenheim,
traf in Nauheim 32 000 dem neu erschlossenen großen Sprudel die Schwester
des Prinzen, die spätere Königin Luise von Dänemark, in Ostende den
Prinzen von Preußen, besuchte in Brüssel den König Leopold von
Belgien, machte die Jagden in der hannöverschen Göhrde und im märkischen
Grunewald mit und reiste im Dezember nach Paris. Hier zeigte der Prinz
die vorurteilslose Höflichkeit, dem alten Prinzen Jérome seine Auf⹀
wartung zu machen, in welchem der Besuch des hessischen Thronerben wohl
merkwürdige Erinnerungen an die lustige Zeit des westfälischen Karnevals
zu Kassel vor 50 Jahren wecken mochten. Napoleon III. erwies sich
sehr aufmerksam gegen das Prinzenpaar, das öfters in die kaiserliche Loge
der Großen Oper zu Gaste gebeten wurde. Auch für den Abend des
14. Januar 1858 hatte er sie aufgefordert, die Ristori in der ‚Stummen
von Portici‘ zu hören. Da Prinzessin Anna erkältet war, so folgte nur
der Prinz der Einladung und wurde so allein Zeuge des Orsinischen
Attentates, das an diesem Abend ganz Paris in Schrecken setzte. Er
berichtete darüber an den Kurfürsten u. a.: ‚Ich befand mich im Theater,
als eben die drei Explosionen stattfanden und hatte unmittelbar darauf die
Ehre, beide Majestäten zu sprechen und zu beglückwünschen. Beide Maje⹀
stäten waren leicht verwundet, der Kaiser blutete im Gesicht, seine Nase war
leicht gestreift, wahrscheinlich durch gesprungenes Glas, und außerdem war
sein Hut durch eine Kugel durchschossen, ohne daß er am Kopfe verwundet
war. Die Kaiserin war am Auge leicht contusionirt, eine Ader war gesprungen
und ihr Kleid mit Blut befleckt. Der Kaiser zeigte eine bewundernswerte
Seelenruhe und einen Muth, wie man ihn selten bei Männern findet, und
beklagte gleich mir, daß so viele unschuldige Menschen für ihn theils todt,
theils verwundet worden seien. Heute weiß man, daß über 100 Menschen
zu Schaden gekommen und vier todt sind. Die Kaiserin zeigte nicht weniger
Muth und es war ein schöner Anblick, das überfüllte Theater mit Akklamation
die Majestäten vom Publikum begrüßen zu sehn.‘
Von Paris begab sich das Prinzenpaar im Frühjahr 1858 nach Berlin,