Landgräfin Anna von Hessen 719
die Ehe Kurfürst Wilhelms II. mit Auguste vom Preußen, der Mutter des
regierenden Kurfürsten, in nicht ungetrübter Erinnerung, so sah man doch
im Hause des Prinzen Karl mit frohen Hoffnungen den neuen Ehebund
zwischen den altverwandten Häusern, der der Prinzessin Anna die Würde
einer regierenden deutschen Fürstin verhieß. Doch fehlte es in den annexions⹀
lüsternen Kreisen Berlins auch nicht an Stimmen, die über die ‚unselige
hessische Heirat‘ murrten und, wie der bekannte Diplomat Theodor v. Bern⹀
hardi, die liebenswürdige junge Prinzessin bedauerten, ‚die diesem Prinzen
von Hessen geopfert wird‘, da doch ‚der nächste Ruck uns von allen den
Kleinen befreit‘.*
Die Hochzeit, an der die ganze königliche Familie mit Ausnahme des
erkrankten Prinzen Friedrich Wilhelm (des späteren Kaisers Friedrich) teil⹀
nahm, fand zu Charlottenburg am 26. Mai 1853, abends 8 Uhr statt, am
selben Tage, da Prinz Karl vor 24 Jahren seine Frau vor den Altar geführt
hatte. Zur Feier des Tages hatten zwei Meister im Reiche der Töne, Meyer⹀
beer und Flotow, Fackeltänze komponiert, nach deren Weisen die preußischen
Minister und obersten Hofchargen altem Brauche gemäß vor dem Braut⹀
paar defilierten. Im Opernhaus wurde Glucks ‚Iphigenie auf Tauris‘
und ein neues Ballet ‚Alphea‘ von Taglioni als Festvorstellung gegeben;
noch mehr Anklang aber fand bei den Berlinern eine festliche Gratisauf⹀
führung im Königsstädtischen Theater, wo ‚Der Landwehrmann‘ und ‚Die
Vergnügungsreise‘ eine ungeheure Menschenmenge anlockten.
Drei Wochen später, am 11. Juni 1853, brachte Prinz Friedrich seine
junge Frau zum ersten Male nach Kassel und stellte sie auf Wilhelmshöhe
dem Chef seines Hauses vor. Kurfürst Friedrich Wilhelm fand
großen Gefallen an der liebreizenden jungen Prinzessin, die ihn als Onkel
begrüßte und mit ihrer liebenswürdigen Ungezwungenheit seinen steifen
Etikettensinn entwaffnete. Denn obwohl der Grad der Verwandtschaft zwi⹀
schen dem Kurfürsten und den jungen Eheleuten etwa der gleiche war, so
fühlte der Kurfürst sich doch von jeher mehr zu seinen Berliner Verwandten
hingezogen, bei denen er seine Kinderjahre und später nach seiner Flucht aus
dem Elternhause auch einen Teil seiner Jünglingszeit verlebt hatte, als zu
den ‚Rumpenheimern‘. So nannte man in Kassel den jüngeren Zweig des
Fürstenhauses nach dem alten Schlosse am Main, das seit etwa einem
halben Jahrhundert der eigentliche Stammsitz der Familie des Prinzen
Friedrich war. Die Spannung, die zwischen ihr und der kurfürstlichen Familie
herrschte, war ziemlich alten Datums. Schon der alte Kurfürst Wil⹀
helm I. hatte seinen jüngsten Bruder Friedrich oft schlecht behandelt und
durch die finanzielle Abhängigkeit, in der der geizige alte Herr seine Agnaten
zu halten wußte, vielfach gedemütigt und so gekränkt, daß ihm jener schließ-
lich sogar die brüderliche Liebe aufkündigte. Eine noch viel härtere Kränkung
erfuhr dieser Großvater des gleichnamigen Prinzen durch seinen Neffen,
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* Aus dem Leben Th. v. Bernhardis 2, 168.
Bism. über die ....? Briefe an L. v. Gerlach
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