730 Philipp Losch
später teilweise in die Öffentlichkeit drang und eine Zeitlang lebhaft besprochen
wurde. Die alte Landgräfin litt sehr unter diesem ‚Spießrutenlaufen ihrer
Armseligkeit durch die Presse‘, wie sie es nannte, und klagte: ‚Angenehm ists
nicht, sich preisgeben zu sehen, wehrlos vis-à-vis Unbekannter, Ungenannter.
Lernen muß ich erst, solchen Schwierigkeiten gewachsen zu sein, aber bald
ists zu Ende mit meiner Kraft.‘ Sie wollte ‚der heiligen Kirche dienen,
still und verborgen, mit dem, was Natur und Gnade ihr an Schätzen ge⹀
geben, durch ihre Konversion‘; statt dessen fühlte sie sich ‚zerzaust und zer⹀
treten‘ und es dauerte längere Zeit, bis sie sich von den Aufregungen dieser
Tage erholte. Während des Weltkriegs lebte die Erinnerung an den Kaiser⹀
brief im Auslande wieder auf, und der Brief wurde von den Katholiken
im Feindeslager weidlich ausgenutzt.
Die Landgräfin erlebte noch die furchtbare Katastrophe dieses Krieges,
in den ihr Sohn Prinz Friedrich Karl unter Verzicht auf seinen hohen
militärischen Rang als einfacher Regimentskommandeur zog und den alten
Waffenruhm seines Hauses im blutigen Kampf bewährte. Sie erlebte die
schwere Verwundung dieses Sohnes und den tapfern Soldatentod ihrer beiden
ältesten Enkel, von denen der eine, Prinz Max, auf dem seit Jahrhunderten
von Hessenblut getränkten Boden Flanderns, der andere, Prinz Friedrich
Wilhelm, in der fernen Dobrudscha ihr junges Leben ließen. ‚Beide waren
Sonnensöhne, begabt, fromm und rein, tapfer und brav‘ schrieb voll
schmerzlichen Stolzes die Großmutter, und es war ihr bei aller Trauer um
die geliebten Enkel ein Trost, wie ‚christlich⹀heroisch‘ ihre Kinder den Ver⹀
lust trugen. Den kurzen Königstraum ihres Sohnes Prinz Friedrich Karl,
den im Oktober 1918 die Finnländer zu ihrem Monarchen erwählten, er⹀
lebte sie nicht mehr. Sie, die so viel Träume und Hoffnungen ihres langen
Lebens in nichts hatte zergehen sehen, würde wohl nicht ohne Skeptizismus
diese Wahl vernommen und sich vielleicht erinnert haben, daß schon vor
200 Jahren ein Hessenfürst* die Herrschaft über das Land der tausend Seen
nur unter schweren Kämpfen hatte behaupten können. So blieb ihr auch das
katastrophale Ende des Weltkrieges und der Zusammenbruch der deutschen
Dynastien erspart. Als ältestes Mitglied des Hohenzollernhauses hätte sie
gewiß dessen schmähliches Ende bitter empfunden, als hessische Fürstin
vielleicht aber auch die Nemesis erkannt, die dem Enkel Wilhelms des Er⹀
oberers das gleiche Schicksal bereitete wie den Depossedierten von 1866.
Die furchtbaren Erfahrungen und schweren Schicksalsschläge des Krieges
zehrten an der Lebenskraft der Greisin. Bis in ihre letzten Lebenstage
durfte sie sich ihrer vollen geistigen Frische erfreuen, aber ihr körperliches
Befinden verschlechterte sich seit dem Frühjahr 1918 in besorgniserregender
Weise. Fronleichnam erhielt sie die hl. Sterbesakramente. Drei Tage
später kam unangemeldet der Kaiser an ihr Sterbelager, eine große Freude
für sie, daß sie nun ausgesöhnt mit ihrer ganzen Familie sterben konnte,
Benedikt XV. sandte ihr seinen Segen. Am Mittwoch, den 12. Juni,
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" Landgraf Friedrich I., 1720—51 König von Schweden.