Full text: Der Kasseler Weinberg

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ihre ersten Rauchversuche machen. — Ja, die Eidechse 
gilt heute noch als ein so stiller und heimlicher 
Ort, daß dann und wann ein zweifelhaftes Frauen— 
zimmer dort ihre Nachtruhe hält und morgens unter 
einem wilden Rosenstrauch Toilette macht. Deshalb 
sieht man noch oft am Wege abgelegte Lumpen 
oder zerrissene sohlenlose Schuhe oder absichtlich 
verlorene geheimnisvolle Pakete liegen. 
Noch im Herbst vor zwei Jahren machte hier 
ein lebensmüder Soldat seinem Dasein ein Ende, 
indem er sich, aus Furcht vor Strafe, an einem 
Zwetschenbaum, der keine sechs Schritt vom Weg 
im Garten stand, erhängte. Die Mieterin des 
Gartens, eine alte, liebenswürdige Dame, ist von 
der ganzen Geschichte nichts gewahr geworden, denn 
auch die militärische Untersuchungskommisstion war 
neben der Gartentür durch die Hecke gestiegen und 
hatte sich, nachdem ein Protokoll über den Befund 
aufgenommen, nach dem Philosophenweg durch die 
tiefer liegenden Gärten entfernt, die Träger mit der 
Leiche nach dem in der Nähe befindlichen Militär— 
dazarett dirigierend. Im darauffolgenden Sommer 
vurde dann wieder in demselben Garten, wo kurz 
zuvor ein Verzweifelnder seinem Leben ein Ende 
nachte, das Jauchzen der dem Leben zueilenden 
Jugend gehört, oder dann und wann an schönen 
S„ommerabenden ein Trompetenkonzert von einem 
sjungen Mann gegeben, welches von allen nachbar— 
lichen Anwohnern beklatscht wurde. 
Werfen wir einen Vorausblick auf die mutmaßliche 
Zukunft des Weinbergs, so wird dieser einst, wie 
der Marburger Schloßberg, vollständig bebaut sein; 
nan wird dann nach Süden hin das Auefeld be— 
»aut sehen und die Stelle bei Schönfeld, wo früher 
ein längst verschwundener Ort „Weingarten“ lag; 
»as westlich liegende Dorf Wehlheiden wird in 
dassel einverleibt sein und keines der dann Leben— 
den wird daran denken, daß an Stelle der Häuser— 
nassen einst schöne Gärten lagen, in denen glück— 
liche und kummervolle Menschen lebten, Bäume 
oflanzten, Blumen zogen und sich an der Blüten— 
bracht und am Gesang der Nachtigallen ergötzten. 
Sonderabdruck aus „Hessenland“, Zeitschrift für heffische Geschichte und Literatur Truck und Verlag von Friedr. Scheel, Kassell, 
Jahrgang XX IISOG], Nr. 8-12)
	        
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