Full text: Der Kasseler Weinberg

DW.4 WX 
Das westlich gelegene Dorf Wehlheiden lag 
damals noch in weiter Ferne von Kassel. — Des 
Abends war, da auch die Landstraße noch keine 
Beleuchtung hatte, alles bis auf einzelne Lichter in 
den wenigen Häusern dunkel; heute wähnt man 
auf eine erleuchtete Stadt mit unzählbaren Lichtern 
herabzusehen. — 
Der Weinberg war in den dreißiger Jahren 
durch zwei Wege von der Stadt aus zugänglich, und 
zwar durch einen am oberen Ende der Königsstraße 
am Rondel (jjetzt Wilhelmshöher Platz bezeichnet) 
beginnenden Gartenweg neben der Arnoldschen Ta— 
vetenfabrik!s) (jetzt Nr. 4) und einen zweiten gleich 
hinter dem Torwachtgebäude südwärts rechtwinklig 
abführenden Gartenweg (GHumboldtstraße). 
Betrat man vom Rondel (damals eine kreisrunde 
mit-Kugelakazien bepflanzte Grasfläche) den noch 
mit einem hölzernen Tor verschließbaren Gartenweg 
(heutige Weinbergstraße), so hatte man links den 
am oberen Ende der Karlstraße beginnenden, hinter 
dem Landgraf Friedrichs-Marstall Getzigen 
dause Nr. 32 der großen Friedrichstraße) bis nach 
der Frankfurter Landstraße sich ausdehnenden Garten 
des Kunstgärtners August Schelhase zur Seite, 
vährend rechts in einem Teile des städtischen Parkes 
die Baumschule eingerichtet war. Noch heute (1891) 
stehen dort auf dem Gartengrundstück des Fabrikanten 
5. Hirsch prächtige Baumexemplare aus der da— 
maligen Zeit. 
Es existierten anfangs der dreißiger Jahre in 
Kassel nur zwei Kunstgärtner (der zweite war der 
oben erwähnte Gollenhofer vor dem Frank— 
furter Tor), und der Schelhasesche Garten 
war auch für Fremde eine Sehenswürdigkeit; uns 
Kindern erschien er aber als das Ideal eines 
Gartens. Heute, nachdem in Kassel reizende Privat— 
Järten entstanden sind, würde er uns in vielen 
Teilen recht kindlich erscheinen, namentlich in Be— 
‚iehung auf die Ausschmückung. So befand sich in 
ihm ein Warmhaus, ausschließlich für Kakteen 
hestimmt, deren Töpfe mit allerhand Baumborke, 
Mineralien und Konchilien bedeckt waren, während 
die Kaktuspflanzen selber eine Menge ausgestopfter 
Vögel, Schlangen und Affen scheinbar belebten. — 
Parallel mit der jetzigen Weinbergstraße lief ein 
langer Gang von schönen Ziersträuchern an weiß— 
gestrichenem Spalier, oft von einer niedlichen Laube 
unterbrochen, die mit ebenfalls weißgestrichenen 
Statuetten auf Holzgestellen flankiert waren. Tische 
und Stühle waren auch weiß gestrichen. Die schmalen 
Wege zwischen den Blumenbeeten waren stets mit 
8) Im Arnoldschen Hause wohnte 1847/48 der unlängst 
verstorbene Maler Adolf Menzel als Gast seines intimen 
Freundes Karl Arnold und schuf dort den großen Karton 
Einzug der Herzogin Sophie von Brabant in Marburg.“ 
gelbem Sand bestreut und sauber geharkt. Aber 
rotzdem an vielen Orten an Tafeln die den Be— 
uchern stets bereitwilligst geöffneten Anlagen zur 
-„chonung empfohlen wurden, fand man an Nach— 
nittagen in den Lauben weggeworfene Frühstücks— 
apiere, Eierschalen und dergleichen. — Daß aber 
zerr Schelhase (lange Jahre Mitglied des Kasseler 
3tadtrates) auch befähigt war, größere Anlagen 
ünstlerisch auszustatten, hat er bei der Umgestaltung 
»es städtischen Wäldchens am Kratzenberg bewiesen, 
vessen nördlichen, mit Bäumen und Gestrüpp be— 
vachsenen Abhang er mit schönen Fahr- und Fuß— 
vegen, sowie mit hübschen Plätzen und mit Borken— 
säuschen verschönte. — 
Dem Schelhaseschen, äußerst reinlich gehaltenen 
ßarten gegenüber lag ein ganz verkommenes kleines 
Anwesen, die Ullenburg genannt, welches von 
inem Maurer und Hausschlächter Debus (cder 
S„chluttendewes genannt) bewohnt wurde. — Das 
liedrige, einstöckige Häuschen hatte ein zerfallenes 
ziegeldach, aus welchem hier und da die Dachsparren 
ind Latten hervorsahen, die Fenster waren teilweise 
ertrümmert oder mit Papier verklebt. Angebaut 
var ein mit Stroh gedeckter hölzerner Ziegenstall, 
ind vor dem Haus und Stall hatten sich Haufen 
von Scherben, Schutt und Dünger angesammelt. 
Iich vergesse nicht, daß ich einst an einem heißen 
zonntag-Nachmittag zwei vom Felssenkellerbier 
ziehisch betrunkene kurfürstliche Garde du Corps 
— es waren die ersten Berauschten, die ich in 
neinem Leben gesehen — sich in ihren weißen 
S„taatsuniformen auf dem Mist herumwälzen sah, 
die kaum noch lallen konnten, und daß ich damals 
nmeiner Kinderphantasie diesen Zustand mit der 
zaubergewalt der in dem Häuschen gedachten Hexe 
n Verbindung gebracht habe. Als ich in reiferen 
Fahren in der Odyssee den Gesang von der Kirke 
ind den Gesellen des Odysseus las, ist mir diese 
Zzene wieder lebhaft ins Gedächtnis gekommen. 
Dder gemauerte, mit hölzernem Dache versehene 
Ziehbrunnen, welcher in der Nähe der Ullenburg stand, 
»efindet sich heute (1891) noch, aber mit großen 
Zandsteinquadern bedeckt, in dem Park der Mur— 
sardschen Stiftung (früher Fürstlich Hanauischem 
ßark), gegenüber dem Garten des Fabrikanten 
5. Hirfch. 
Dicht neben dem Schelhaseschen Garten und von 
iesem nur durch den von der Frankfurter Land— 
traße!“) heraufführenden ersten Weg getrennt, lag, 
iach Westen sich erstreckend, der Garten des Meß— 
ommissars Espe, der in neuerer Zeit durch den 
14) Die Brücke, die hier über die Straße führt und den 
Weinberg mit der Bellevyue verbindet, wurde erst 1873 
rbaouft.
	        
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