34 Gräfin Reichenbach Wilhelm II. in Hanau 1821
krankhaft reizbaren Kurprinzen zum Herrscher machte, da sollte es nicht lange
dauern bis zum offenen Bruche.
Der neue Kurfürst lebte seit 1815 getrennt von seiner Gemahlin, der preus⸗
sischen Prinzessin Auguste, die es nicht verstanden hatte, ihn dauernd an sich
zu fesseln. Dem Beispiele seines Vaters folgend, hatte Wilhelm II. in der
diebe der schönen Berliner Goldschmiedstochte Emilie Ortlöpp einen
Ersatz für das ihm fehlende eheliche Glück gefunden. Solange der alte Herr
am Ruder war, lebte die Geliebte in erzwungener Zurückgezogenheit in Cassel.
Nach dem Regierungswechsel zur Gräfin Reichenbach erhoben, trat
die ehrgeizige und herrschsüchtige Dame sofort mit dem Anspruch auf, am
Hofe zum mindesten eine ähnliche Rolle zu spielen, wie sie etwa die Gräfin
Hessenstein, die Geliebte Wilhelms J., eingenommen hatte. Die neue Gräfin
machte in der Casseler Gesellschaft Besuche und hatte auch die Dreistigkeit,
bei dem Landgrafen und der Landgräfin Friedrich anzuklopfen. Um einen Eklat
zu vermeiden, mußte sie wohl oder übel angenommen werden, aber der Em⸗
pfang war so kühl, daß die Reichenbach, wütend darüber, daß ihr nicht ein⸗
mal ein Stuhl angeboten war, nach Hause zurückkehrte. Landgraf Friedrich
hatte das Verhältnis seines Neffen zu der Dame niemals gebilligt, noch
weniger konnte seine Gemahlin sich zu einem Verkehr mit ihr verstehen.
So fühlten beide, daß unter den veränderten Verhältnissen ihr Aufenthalt
in Cassel für sie unerträglich werden würde. Ihre Schwiegertochter, die Prin—
zessin Wilhelm, kehrte nach Kopenhagen zurück, und die landgräfliche
Familie zog nach Rumpenheim. Aber auch hier sollte sie keine Ruhe vor
dem Zorn der gekränkten Maitresse finden. Als der neue Kurfürst auf seiner
ersten Reise durch Hessen im Juni 1821 nach Hanau kam und bei den dor⸗
tigen Empfangsfeierlichkeiten den Landgrafen Friedrich vermißte, da geriet
der durch die Reichenbach aufgehetzte Fürst in maßlose Wut, zumal er sich
schon darüber geärgert hatte, daß seine Gemahlin ein paar Tage vorher in
Rumpenheim gewesen war. In dieser Stimmung schrieb er am 14. Juni
den folgenden schier unglaublichen Brief an seinen Onkel: „Mein lieber Land⸗
graff! Es hat Ewr. Lbd. beliebt ein früheres Benehmen fortzusetzen, welches
schon seit vielen Jahren durch Allerhand Tramerien gegen Mich anfing
und wovon Ich Meines Orts die Sprechensten Beweise in Händen habe.
Ich habe es dennoch unter Meiner Würde gehalten, seit dem Antritt Meiner
Regierung eine Erwähnung davon zu thun, wie Ew. Durchl. wissen, und es
weeder Ihnen noch Ihrer Familie im Mindesten fühlen zu lassen. Der Ab⸗
sichtliche Mangel Ihres Mir als Souverain und Chef Meines Hauses schul⸗
digen Respectes ist Mir gestern abermals bemerklich gewesen: wo jedermann