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Lateinstudium Hessische Geschichte
Bildung in Hessen, den sie zu beobachten glaubte, ruͤhre hauptsaͤchlich
don der Vernachlaͤssigung des lateinischen Studiums her, ohne das man
keine Fortschritte in den Wissenschaften gewinnen koͤnne, die den Juristen
und Staatsmann ausmachten. Wilhelm muͤsse dermaleinst diese Sprache
wieder zum Leben erwecken und durch sein Beispiel die jungen Leute
aller Staͤnde anfeuern, die ihm eines Tages mit Auge und Hand dienen
sollten. Sie beneidete ihren Sohn darum, daß er schon so viel Latein
koͤnne, um nicht wie sie auf bloße Uebersetzungen angewiesen zu sein.
Wie sie selber sehr viel las, so verlangte sie auch dasselbe von ihren
Soͤhnen; denn „ich kenne kaum einen großen Staatsmann oder Feldherrn,
der ohne ausgedehnte Lektuͤre das geworden waͤre.“
Auch die Geschichte ihres Landes und Hauses sollten die Prinzen
zenau kennen. Mit bewundernswuͤrdigem Eifer hatte die Erbprinzessin
ich selber in dies ihr zunaͤchst doch ganz fremde Gebiet eingearbeitet und
anerkennenswerte Kenntnisse darin erworben. Von Philipp dem
Broßmuͤtigen wollte sie nichts rechtes wissen der Mann der Marga⸗
rethe von der Saal war ihr nicht sympathisch. Sie fuͤhlte sich selber
als Leidensgenossin der Landgraͤfin Christine und konnte „dem von aller
Welt so viel bewunderten“ seine Doppelehe nicht verzeihen. Dagegen
war Wilhelm IV. ein Fuͤrstenideal, das sie ihrem Sohne als nach—
ahmenswertes Beispiel vorhielt: „Er war ein weiser Mann, ein Vater
seinem Lande und so sehr bewundert wegen seines Wissens, daß die
zroͤßten Hoͤfe in allen Schwierigkeiten seinen Rat nachsuchten. Er ist
mein Held, und ich will Dich ihm aͤhnlich sehen. Das ist das Original,
das Du kopieren sollst.“ Bei dem voͤlligen Mangel eines auch nur einiger⸗
maßen ausreichenden Hilfsmittels) fuͤr diesen Unterricht veranlaßte Marie
den Regierungsrat Hein eine hessische Geschichte zu schreiben, die ganz
in ihrem Sinne eine ungeschminkte Darstellung der Tatsachen und eine
unbefangene Abwaͤgung der Verhaͤltnisse ohne Ansehung der Person ent—
hielt und so freimuͤtig abgefaßt war, daß Hein die Geheimhaltung dieses
in anderm als gewoͤhnlichen Sinne in usum Delphini verfaßten Ab—
risses begehrte, uͤber dessen Verbleib leider nichts bekannt ist.
N) Abgefehen von Hartmanns lateinischem Compendium (1741 —-46) fuͤr seine
Marburger Vorlesungen und des Gießer Professors Ahermann „Einleitung zur
yessischen Historie“ (1732), die aber bloß die aͤltere Zeit eingehender behandelte, existierte
nur der von dem Erlanger Professor Reinhard 1753 herausgegebene „Entwurf einer
distorie des hochfuͤrstl. Hauses Hessen“, ein duͤrftiges Machwerk, das erst 1784 durch
den Hanauer Pfarrer Goͤtz, den Lehrer der Prinzessin Friederike, umgearbeitet und
derbessert wurde. Die erste lesbare hessische Geschichte verfaßte in franzoͤsischer Sprache
176784 der Genfer Mallet, der als Lehrer des daͤnischen Kronprinzen in Kopen⸗
hagen in Beruͤhrung mit den Erziehern der hessischen Prinzen kam. In Nopenhagen
erschien dann auch eine deutsche Uebersetzuna von Mallets erstem Bande.