Religiositaͤt Charakterentwicklung 373
und hielt regelmaͤßig fuͤr sich seine haͤusliche Andacht, wenn er den Sonn⸗
tag nicht im Gotteshause zubrachte. Aber auch diese stark und deutlich
betonte Religiositaͤt war nicht frei von politischer Faͤrbung. Er betrachtete
die „Religion als erste Stuͤtze des Staates“. Deshalb sollte sein Sohn
sie „nicht blos als Landesherr schuͤtzen, sondern auch als Christ bekennen
und ausuͤben und von ihr alsdann Trost erwarten, wenn alles uns
verlaͤßt.“ Diesen Trost hatte er in den schlimmsten Perioden seines
Lebens erfahren, darum hielt er fest an ihm.
Wilhelms Religiositaͤt war kein Produkt seines Alters, nicht etwa
die spaͤte Froͤmmigkeit eines reuigen Suͤnders, er hat vielmehr sein
Christentum zu allen Zeiten bekannt. Im Wesen und Charakter dieses
hessischen Fuͤrsten ist ja uͤberhaupt im Laufe der langen Jahre kaum
eine Entwicklung zu beobachten. In den Restaurationsjahren nannte
man ihn zuweilen den „Nestor der deutschen Fuͤrsten“. Seine 70 Jahre
waren ja eigentlich kein so außergewoͤhnlich hohes patriarchalisches Alter.
Wenn man aber bedachte, daß er seit 1764, also im ganzen beinahe
60 Jahre lang regierte, so mochte der Name seine Berechtigung haben.
Wie Nestor hatte er drei Menschenalter gesehen, aber die Zeit war uͤber
ihn hinweggegangen, ohne ihn wesentlich zu veraͤndern. Die Ideen
seines letzten Testamentes von 1819 decken sich fast voͤllig mit den An⸗
schauungen und Grundsaͤtzen, die er schon 1782 im Vorwort zu seinen
Memoiren fuͤr seinen Sohn ausgesprochen hatte. Und das waren die
Anschauungen des ancien regime des vorrevolutionaͤren Zeitalters.
Wilhelm J. war der letzte konsequente Vertreter des fuͤrstlichen Absolutis⸗
mus der deutschen Zopfzeit. Er wollte der Vater seines unmuͤndigen
Volkes sein und ist es mit allen ihm anhaftenden Fehlern und Schwaͤchen
auch gewesen. Diese Fehler und Schwaͤchen waren ebenso wie seine
Vorzuͤge im wesentlichen die eines vergangenen Zeitalters, in dem er
mmer noch lebte, als fuͤr die uͤbrige Welt laͤngst eine neue Zeit ange⸗
brochen war. Mit allen Kraͤften, die ihm im Kampfe eines langen
Lebens geblieben, hatte er dem neuen Zeitgeist mit vollem Bewußtsein
sich entgegengestemmt, hatte um sein geliebes Hessenland eine Mauer zu
hauen gesucht, um die Gefahren zu bannen, die er von den neuen Ideen
befuͤrchtete. Der Gedanke, vor dem neuen Zeitgeist zu kapitulieren, ist
ihm nie gekommen, ebensowenig wie der doch naheliegende Gedanke,
der juͤngeren Generation das Feld zu raͤumen. Dagegen straͤubte er
sich wie ein richtiger alter hessischer Bauer, der nicht in den Auszug will.
Gegen das Ende seiner Regierung kam es ihm freilich mehr und
mehr zum Bewußtsein, daß er in eine Zeit nicht mehr hineinpaßte, die