Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

366 Die letzten Tage 
dieselbe Zeit aber, da er sterben sollte, leitete der Kurfuͤrst persoͤnlich die 
(im vorigen Jahre ausgefallenen) großen Manoͤver bei Schoͤnfeld, wo 
die Kanonen beim Sturm auf Wehlheiden donnerten, war uͤberall zu⸗ 
gegen und „marschierte mit der ganzen Linie selbst mit“. Haͤnlein mußte 
gestehen, daß der Kurfuͤrst seit Jahren nicht so wohl und ruͤstig gewesen 
sei, wußte aber dann doch gleich wieder von einer neuen Prophezeiung 
zu melden, die seinen Tod auf den 21. November festsetzte. An diesem 
Tage war der Kurfuͤrst auf dem großen Balle im Stadtbau, den die 
Buͤrgerschaft zur Feier des siebenten Jahrestages seiner Wiederkehr gab, 
und fuͤhrte in eigner Person mit der Kurprinzessin die Polonaͤse an.) 
Bei der Taufe des aͤltesten Enkels?) des Landgrafen Friedrich am 
zweiten Weihnachtstage mußte er sich freilich durch den Taufvater, den 
Prinzen Wilhelm, vertreten lassen, weil ihn das Chiragra wieder mal 
plagte. Aber die Casseler Zeitung durfte nichts davon erwaͤhnen und 
schrieb, daß drei Generationen, der Kurfuͤrst, sein Sohn und sein Enkel, 
diesen juͤngsten hessischen Prinzen aus der Taufe hoben, von dem damals 
noch niemand ahnte, daß er als zukuͤnftiger „Thronfolger“ spaͤter jahr⸗ 
zehntelang die Anwartschaft auf den hessischen Thron haben und — ihn 
doch niemals erhalten wuͤrde. 
Zu Anfang des Jahres 1821 war der Kurfuͤrst wieder ganz wohl, 
und der Namensstempel, den er sich des Chiragras wegen fuͤr die Unter⸗ 
schriften hatte machen lassen, kam nicht zur Anwendung, zumal die 
Minister auf das Gefaͤhrliche eines etwaigen Mißbrauches aufmerksam 
gemacht hatten. Mit reger Anteilnahme verfolgte er die Zeitereignisse, 
aͤrgerte sich uͤber die neue liberale darmstaͤdtische Konstitution und war 
aͤußerst indigniert uͤber die Art, wie die Englaͤnder in dem Skandal⸗ 
prozeß der Koͤnigin Caroline?) die schmutzige Waͤsche gekroͤnter Haͤupter 
bor aller Augen wuschen. Die Nachrichten aus Spanien und Italien 
regten ihn sehr auf und schienen ihm die Vorboten einer neuen großen 
Weltrevolution zu sein. Die ganze politische Atmosphaͤre, von der des⸗ 
halb die Casseler Zeitung nichts ahnen lassen durfte, erinnerte ihn leb⸗ 
1) Der Kurprinz war nicht erschienen aus Ärger daruͤber, daß seine Geliebte 
Madame Ortloͤpp nicht feierlich eingeladen war. 
2) Friedrich Wilhelm Georg Adolph, * 26. Nov. 1820 au Cassel, p als Landaraf 
14. Okt. 1884 zu Frankfurt. 
8) Der Prozeß wurde in Cassel lebhaft besprochen, seitdem ein englischer Agent 
dort gewesen war, um den kurfuͤrstlichen Bereiter Credeé in der Angelegenheit der 
Koͤnigin auszufragen und nach England vorzuladen. Credé war 1815 zu Neapel in 
die Dienste der damaligen Prinzessin von Wales getreten und haͤtte sie zwei Jahre 
lang auf ihren Reisen beqgleitet. Er starb erst im November 1884 zu Cassel im 92. 
Lebensiahr.
	        
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