Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

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Wilhelms Lebensweise 
don diesem ihm selbst sehr laͤstigen déefigurement de physiognomie 
war Wilhelm merkwuͤrdig ruͤstig fuͤr sein Alter geblieben, wenn ihn 
auch das Zipperlein oͤfters heimsuchte und zuweilen arg plagte. Da⸗ 
zegen brauchte er seine alljaͤhrlichen Badekuren, meist in Hofgeismar, 
wo er in den letzten Jahren immer mit seinem Bruder Carl zusammen⸗ 
traf. Dessen geheimnisvolle Lebenselixiere verschmaͤhte er noch immer, 
lebte aber sonst sehr fuͤr seine Gesundheit, ohne sich jedoch so zu schonen, 
wie die Ärzte von ihm verlangten. Bis an sein Ende stand er sehr 
fruͤh auf, ging gleich an die Arbeit, machte sich aber dabei viel Be— 
wegung in der frischen Luft, fuhr und ging spazieren, sah sich seine 
Bauten an und war bei jedem Feueralarm in Cassel zu jeder Zeit einer 
riner der ersten auf der Brandstaͤtte. Auf der Promenade in Hofgeis— 
mar und bei den Sommerkonzerten in der Aue pflegte er sich unge⸗ 
zwungen unter das Publikum zu mischen und sich an irgend einen Tisch 
zu anderer Gesellschaft zu setzen, durch sein freundliches, leutseliges Wesen 
auch die einnehmend, die eben noch auf ihn raͤsonniert hatten. Nicht 
mehr so reiselustig wie fruͤher, machte er doch bis zum Jahre 1819 
alljaͤhrlich seine gewohnten Inspektionstouren durch das ganze Land und 
verband damit auch noch gelegentlich Besuche an auswaͤrtigen Hoͤfen. 
Die Casselaner waren es so gewohnt, den Kurfuͤrsten taͤglich zu sehen, 
daß jedes kleine Unwohlsein, wie die Podagraanfaͤlle, die ihn an das 
Zimmer fesselten, lebhaft besprochen und stark uͤbertrieben wurden. So 
hatte er sich in einer kalten Winternacht im Dezember 1817 bei einem 
Brand vor dem Coͤlnischen Tor eine starke Erkaͤltung zugezogen, die sich, 
da er die Warnungen der Üürzte nicht beachtete, laͤnger hinzog und ver⸗ 
schlimmerte. Sofort waren wieder boͤse Geruͤchte im Umlauf, und man 
munkelte davon, daß die Clairvoyants der damals auch in Cassel be⸗ 
liebten magnetischen Sitzungen!) den baldigen Tod des Kurfuͤrsten prophe⸗ 
zeit haͤtten. Sobald dieser davon hoͤrte, ließ er einen von den hell— 
seherischen Propheten einsperren und fuhr ostentativ durch die Straßen 
der Stadt, um die Geruͤchte zum Schweigen zu bringen. Sie tauchten 
aber von Zeit zu Zeit immer wieder auf. Der preußische Gesandte v. 
Haͤnlein meldete seiner Regierung alle Augenblicke, daß der Kurfuͤrst 
nicht mehr lange zu leben habe, erlebte aber das Eintreffen seiner Prophe⸗ 
zeihungen nicht, da er, obwohl fast 20 Jahre fuͤnger als Wilhelm, am 
1) Besonders der Medizinalrat Dr. Valentin machte zahlreiche Versuche auf dem 
Bebiete des Mesmerismus und Hypnotismus, hatte aber das Ungluͤck, daß seine er—⸗ 
olgreichste Somnambule, eine Juͤdin Sußmann, von seinem Kollegen Harnier als Be—⸗ 
truͤgerin entlarot wurde.
	        
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