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Besuch in Herrenhausen 1755
Hofsitte in die Knie sank und dem Vater die Hand kuͤßte, und als der
gestrenge Großvater sie deutsch anredete und mit baͤrbeißiger Miene die
Hoffnung aussprach, sie moͤchten „keine Baͤrenhaͤuter werden, da wußten
sie in ihrer respektvollen Schuͤchternheit nicht, was sie antworten sollten.
Der Aufenthalt in Herrenhausen dauerte 14 Tage. Jeden Nachmittag
mußten die Prinzen sich in der Gallerie einfinden und dem Koͤnig ihre
Aufwartung machen. Von der koͤniglichen Tafel, an der Marie teil⸗
nahm, waren sie ausgeschlossen, dagegen durften sie die franzoͤsische
Komoͤdie besuchen, die auf dem Gartentheater des Schlosses gespielt
wurde, und saßen dann mit dem Koͤnig zusammen auf der Buͤhne selbst
und sahen das Schauspiel von seitwaͤrts an. Auch die Graͤfin VYar⸗—
mouth, ehemal. Frau v. Wallmoden, die allmaͤchtige Geliebte Georgs II.,
befand sich unter den bevorzugten Zuschauern auf der Buͤhne und ge—
wann durch ihr liebenswuͤrdiges Wesen schnell das Zutrauen der kleinen
Prinzen. Jeden Morgen ging Marie mit ihrem Bylly, wie sie es von
Cassel her gewohnt war, in dem großen Garten von Herrenhausen
spazieren, und es machte einen eigentuͤmlichen Eindruck auf den Jungen,
wie die Mutter bei diesen Spaziergaͤngen bemuͤht war, dem Koͤnig aus
dem Wege zu gehen. Georg II. war sonst sehr gnaͤdig gegen seine
jungen Gaͤste, schenkte jedem von ihnen beim Abschied einen goldenen
Degen, und beruhigt uͤber die empfangenen Gnadenbeweise und Zu—
sicherungen konnte Marie am 5. August wieder die Ruͤckreise antreten.
Sie nahm die Soͤhne mit sich nach Cassel, wo man den Landgrafen
hon seiner Krankheit wiederhergestellt aber noch recht schwach antraf.
Wilhelm VIII. hatte damals eigentlich die Absicht gehabt, seine
Residenz nach Hanau zu verlegen, um seiner Schwiegertochter, die ihn
begleiten sollte, den spaͤteren Regentschaftsantritt zu erleichtern. Jetzt
konnte er aber, angeblich unter dem Einfluß der Graͤfin Bernhold,!)
der Altersfreundin des Landgrafen Carl, die auch bei seinen Soͤhnen
viel galt, sich nicht endguͤltig dazu entschließen und blieb in Cassel.
Sein Sohn, der Erbprinz Friedrich, der waͤhrend der Krankheit
des Vaters nach Geismar gekommen war, mußte nun seinen Wohnsitz
in Voͤlkershausen, dem fruͤheren Lehnsgut des Prinzen Georg bei Vach,
aufschlagen, von wo er im November nach Hersfeld zu seinem Regi—
mente uͤbersiedelte.
Die erbprinzlichen Soͤhne waren am 25. August nach Goͤttingen zu—⸗
ruͤckgekehrt, noch voll von den Eindruͤcken ihrer Reise nach dem Herren—
1) Sie starb am 27. Dez. 1756 im 67. Jahre zu Cassel und hinterließ ihr nicht
unbedeutendes Vermoͤgen einer noch jetzt bestehenden Stiftung fuͤr adelige Damen.