Die Briefe der Erbprinzessin
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Kinder regelmaͤßig geschrieben, und wenigstens von dem aͤltesten auch
regelmaͤßige Antwort verlangt hatte, so verging auch jetzt kein Posttag,
ohne daß der Postillon mindestens einen langen Brief kor my dear,
dear, dear, charming angel Bylly aus Cassel mitbrachte, der mit Jubel
in Goͤttingen begruͤßt wurde. Koͤstliche Briefe waren es, die der Sohn
als einen wahren Schatz getreulich in einigen Baͤnden als Correspon-
dance d'une Mère à son Fils aufbewahrt hat. Wie die Mutter in
dem ersten Brief nach Goͤttingen sich nicht enthalten konnte, ihrem Sohn
zu gestehen: „ich liebe Dich mit einer Heftigkeit, die uͤber alle Beschreibung
ist“, so schrieb der Sohn spaͤter auf den allerletzten: »Dernière lettre
de ma chère et adorable mèêre que j'aimerai à jamais comme la
neilleure et la plus digne de toutes les femmes.« Aber diese Briefe
enthielten nicht nur muͤtterliche Zaͤrtlichkeitsausbruͤche. Jede Zeile zeigt,
wie die Prinzessin trotz der Trennung unaufhoͤrlich in Gedanken bei ihren
Kindern war, mit ihnen lebte und jeden Schritt ihrer Wege und ihrer
Entwicklung unausgesetzt im Auge hielt und uͤberwachte. Wie sie selber
tagebuchartig den Soͤhnen uͤber ihr Leben und Treiben Auskunft gab,
so verlangte sie auch von ihnen die genauesten Berichte uͤber ihr Tage—
werk und ihre Arbeit, „denn ich muß jedes Ding wissen, was Du sagst
oder thust.“ Damit erreichte sie, daß Wilhelm schon von fruͤher Jugend
an sich Rechenschaft uͤber seine taͤglichen Erlebnisse gab, was er bis an
sein Ende fortgesetzt hat. Marie verfolgte den Unterricht ihrer Kinder,
las dieselben Buͤcher, trieb die gleichen Geschichtsstudien und quaͤlte sich
durch dieselben mathematischen und geometrischen Aufgaben, die ihren
Lieblingen Kopfzerbrechen machten. Sie freute sich uͤber jedes gute Zeug—
nis der Lehrer, war verstimmt, wenn es hieß, daß Wilhelm nur so la
la gelernt habe, und war ungluͤcklich, wenn das Urteil der Lehrer noch
weniger zufrieden lautete. Besonders war sie unablaͤssig bemuͤht, Herz
und Seele ihrer Kinder zu ergruͤnden und sie, namentlich aber den aͤltesten,
fuͤr die großen Aufgaben vorzubereiten, die ihrer in ihrer bevorzugten
Lebensstellung harrten. In ihren Briefen bekaͤmpfte sie Wilhelms Un⸗
geduld und Heftigkeit, tadelte seine Launen und seinen Eigensinn, ver⸗
spottete gutmuͤtig seine Schwaͤchen, besonders seine linkische Steifheit im
Verkehr, mahnte ihn zur Freigebigkeit, warnte ihn vor Unaufrichtigkeit.
Kein Erzieher konnte dringender, treulicher, herzlicher mahnen, als diese
Mutter, die den Mut hatte, ihrem zwoͤlfjaͤhrigen Sohn einen Geburts—
tagsbrief zu schreiben, in dem es hieß: „Moͤgest Du noch recht viele Ge—
burtstage erleben, d. h. wenn Du ein verstaͤndiger Mensch wirst; wenn
das aber nicht sein sollte, dann moͤgest Du lieber sterben, ehe ich das