290 Abtruͤnnige Hessen Jerome in Cassel 180808
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solches geschehn lassen, und ist den Dienern bekannt zu machen, wie ich
ihnen lediglich uͤberließe, was sie thun wollten, indem es mir in der
Lage, worinnen ich mich in dem Augenblick befaͤnde, unmoͤglich waͤre,
fuͤr ihr Unterkommen zu sorgen, wie ich aber auf jeden Fall darauf
rechnete, daß sie mir als ihrem angebohrenen Herrn im Grunde immer
und unter allen Umstaͤnden treu und attachiert blieben.“
Diese Ermahnung konnte jedoch die durch die Umstaͤnde bedingte,
nunmehr beginnende Fahnenflucht und Abwanderung in das Lager des
neuen Brotherrn nicht hemmen, die dem Kurfuͤrsten den schmerzlichen
Ausruf ablockten: „O ihr Hessen, in welchem Licht zeigt ihr euch!“
Selbst in seiner naͤchsten Umgebung gab es Abtruͤnnige, die Urlaub
nach Hessen erbaten und nicht wiederkamen, wie der Leibchirurg Witte
und „andre boͤse Dienstboten“. Und von Cassel ging schon im August
eine Deputation nach Paris zu Jerome, darunter Gilsa und Heister,
„die schaͤndlichen“, und vier Pagen aus den besten hessischen Familien.
„Der neue Glanz betaͤubet viele“, so erzaͤhlte der Generalmajor von
Lehsten, der diese Nachricht von Cassel nach Itzehoe brachte: aber
ein paar Monate spaͤter gehoͤrte auch er zu den Dienern Jeromes.
„Sie werden schon ihren Lohn empfangen“, meinte ingrimmig der Kur⸗
fuͤrst. Er wollte nicht einsehen, daß viele seiner Getreuesten nur aus
finanzieller Not diesen Schritt taten, den er durch ihre Unterstuͤtzung
haͤtte abwenden koͤnnen. Allerdings haͤtte er das allgemein ja doch
nicht durchzufuͤhren vermocht. So bildete er sich aber noch viel darauf
ein, wenn er den darbenden hessischen Offizieren in Luxremburg und Metz
ein paar tausend Gulden schickte, und klagte uͤber Undankbarkeit, wenn
sie mit diesem Tropfen auf den heißen Stein noch nicht zufrieden waren.
An dem kleinen kurfuͤrstlichen Hofe in Holstein fing es nun allmaͤh—
lich an, einsamer zu werden, und Briefe und Besuche aus Hessen kamen
immer seltener. Der Kurfuͤrst empfand das sehr schwer. „Ich glaube,
es wird mir viel verhehlt“, meinte er, „ich erfahre garnichts aus Hessen.
Niemand wagt an mich zu schreiben. Ich komme aus aller Connexion.“
Was in der Heimat weiter geschah, erfuhr er zum großen Teil erst aus
oͤffentlichen Nachrichten. Den Zug Jeromes und seiner jungen wuͤrt⸗
tembergischen Gemahlin von Paris uͤber Stuttgart nach Cassel verfolgte
er in den Zeitungen, man kann sich denken, mit welchen Gefuͤhlen.
„Diese Tage sind mir herbe“, schrieb er am 11. November in sein Tage—
buch. „Nach 42 jaͤhriger Regierung muß ich bey meinem Leben noch
einen Nachfolger in Hessen, in meinem geliebten Hessen sehen!“ Drei
Tage spaͤter kam Schmincke von Cassel mit der Versicherung, daß alles