Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

12. Das Ungluͤcksjahr 1806 
De Abwesenheit von Cassel habe heut tief gefuͤhlt. Gott gebe das 
jetzige Jahr gluͤcklicher wie das vorige!“ Mit diesem Wunsche be— 
gann Kurfuͤrst Wilhelm am 1. Januar 1806 im Berliner Schlosse sein 
Tagebuch. Mit bitterer Sorge blickte er in die Zukunft. Seit über 
zehn Jahren hatte er die Schaukelpolitik Preußens notgedrungen mit— 
gemacht, und was hatte er davon gehabt? Die meisten seiner mittleren 
Standesgenossen hatten ihr Herrschaftsgebiet bedeutend erweitern koͤnnen, 
— 
kronen. Preußen dagegen hatte ihn betrogen, immer nur Versprechungen 
und schoͤne Worte gehabt und sich selbst enorm vergroͤßert. Wenn Preußen 
setzt auch Hannover nahm, so war Hessen voͤllig zwischen Preußen und 
Frankreich eingeklemmt, was dem Kurfuͤrsten um so mehr zum Bewußt⸗ 
sein kam, als seit dem Preßburger Frieden zwei franzoͤsische Armeen 
unter den Marschaͤllen Augereau und Lefeèbre in drohender Stellung in 
der Maingegend und der Wetterau lagen und bis Gießen vordrangen. 
Und wer trug daran die Schuld? Einzig und allein die heillose preußische 
Politik, gegen die sich all sein Groll und Unmut richtete. 
Man muß die damalige Stimmung Wilhelms, wie sie sich in seinen 
Tagebuͤchern kundgibt, kennen, um seine Haltung in dieser Zeit, nament⸗ 
lich im letzten entscheidenden Moment vor der Katastrophe zu verstehn. 
(WVgl. meine Geschichte des Kurf. Hessen S. 27.) Dabei liebte er doch 
dies Preußen, auf das er so raͤsonierte, aber mit dem Gefuͤhl eines 
Liebhabers, der von der Charakterlosigkeit und Treulosigkeit der Geliebten 
Beweise hat und doch nicht den Entschluß fassen kann, sich endguͤltig 
von ihr loszusagen. 
„Kann man die Kurfuͤrsten von Hessen und Sachsen tadeln, wenn 
sie die Partei einer Macht verlassen, deren Allianz weder Vorteil noch 
Sicherheit bietet, die zu bedeutenden Ausgaben noͤthigt, ohne daß irgend 
eine Ehre und ein Vorteil entsteht, und deren schwankender und un⸗ 
sicherer Gang den Feinden keine Furcht, den Freunden kein Vertrauen 
einfloͤßen kann,“ schrieb damals Prinz Louis Ferdinand von Preußen), 
der nichts weniger als ein Verehrer des Kurfuͤrsten war. Wo aͤußerliche 
1) An seine Schwester, die Prinzessin Radziwill, 9. Januar 1806. 
Losch, Kurfuͤrst Wilbelm J.
	        
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