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Der hessische Paradetrill
allgemeinen Vorgehn der uͤbrigen Armeen entschuldigen zu muͤssen glaubte.
UÜbrigens wurde dafuͤr gesorgt, daß bei dieser wichtigen Amputation
„toujours un air de propretèé“ gewahrt blieb. Propreté, Reglement
und oͤder Drill wurden uͤberhaupt mehr und mehr zur Hauptsache; die
Feldzugspatina war laͤngst abgestreift und durch den Paradeflimmer
ersetzt. Auf dem Boulingrin uͤbte der Landgraf selbst mit den einzelnen
Regimentern die „allerdifficilsten Evolutionen“), nahm regelmaͤßig jedes
Jahr die Spezial⸗ und Generalrevuen ab, ließ auf dem Forst ein paarmal
„brav feuern“, natuͤrlich ohne scharfe Munition, und freute sich, wenn
die Gewehre mit den neuen konischen Zuͤndloͤchern praͤzis alle auf einmal
losgingen. Bei schlechtem Wetter wurden die Manoͤver abgesagt, damit
die Uniformen nicht litten. Der mit der Zeit immer mehr uͤberhand⸗
nehmende Kasernen- und Gamaschengeist verleidete manchem und nicht
den schlechtesten von den Offizieren den landgraͤflichen Dienst, und wie
schon fruͤher Ewald?) nach Daͤnemark gegangen war, so ging spaͤter
Porbeckꝰ) nach Baden und Wiederhold 2) nach Portugal, um nur einige
Namen zu nennen, die im Ausland zu hohen militaͤrischen Ehren gelangten.
Unzufriedenheit schuf auch die knappe Besoldung der Offiziere. Als
aber Wilhelm (Okt. 1804) sich endlich entschloß, ihnen eine allgemeine Auf—
desserung ihrer Bezuͤge zu gewaͤhren, da wurde er am Abend im Theater
mnit Vivatrufen empfangen, ja die Dankbarkeit der Generale und Kompagnie⸗
hefs war so groß, daß sie sich in corpore fuͤr ihn von dem Hofmaler
Boͤttner malen ließen, wie sie huldigend den Thron des von Fama mit
dem Rubhmeslorbeer gekroͤnten Fuͤrsten umgaben.
1) Sehr anschaulich beschreibt 1803 Miß Berry, die Freundin Horace Walpoles,
eine solche Parade auf dem „unvergleichlich schoͤnen Platz“ vor der Orangerie. „Nichts
zann die uhrwerkartige Regelmaͤßigkeit der Bewegungen uͤbertreffen ... Die Uniformen
ind sehr hübsch und das ganze Aussehn der Soldaten sehr sauber und militaͤrisch.
Ihr Fuͤrst tut aber auch nichts weiters und denkt an nichts anderes und ist, glaube ich,
zeiner der groͤßten Adepten in jedem Zweig der Kunst, die man deutschen Drill nennt ...
Er war die ganze Zeit zu Fuß und an jeder Stelle der Linie ... Wirklich es ist eins
der schoͤnsten militaͤrischen Schauspiele, die man sehn kann.“ Extracts of the Iour⸗
nals of Miß Berry. London 1865 2, 283 ff.
2) Joh. Ewald (* 1744 zu Cassel), der hochberuͤhmte Fuͤhrer der hessischen Jaͤger
m amerikanischen Kriege, trat 1788 in daͤnischen Dienst und starb geadelt als General⸗
eutnant 1813 bei Kiel.
3) Heinrich v. Porbeck, eigentlich Boedicker (1771 zu Casseh, verließ 1801 mit
einem Vater und Bruder den hefsischen Dienst, den er in seiner Geschichte des brabanter
Feldzugs scharf kritisterte. Er fiel als badischer Generalmaior 1809 in der Schlacht
bei Talavera.
4) Bernhard Wiederhol de 1757 zu Cassel), der sich als Generalstabsoffizier
m Revolutionskriege auszeichnete (gl. oben S. 194) und das Lager bei Bergen ar—⸗
—D V00— General⸗
maior 1810 in Lissabon.