Die Freundin und die Gemahlin des Landgrafen 219
Fruͤhjahr 1788 die Freundin des Landgrafen, die ihm seitdem in guten
und schlimmen Tagen bis an sein Lebensende nahestand. Dieser letzte
Liebesbund hatte von Anfang an den Charakter einer sog. mariage
de conscience, die in aller Hffentlichkeit von Wilhelms Umgebung und
Familie als solche anerkannt wurde und bei dem Takt und der bescheidenen
Zuruͤckhaltung der Graͤfin Schlotheim (so wurde sie in Cassel
tituliert, lange ehe diese hoͤfische Rangerhoͤhung vom Kaiser bestaͤtigt
wurde) auch nicht weiter als anstoͤßig empfunden wurde. Niemals hat
die Graͤfin die ihr unerwartet und zunaͤchst gegen ihren Wunsch und
Willen zugefallene Gunst mißbraucht und niemals Anspruͤche erhoben,
die nur des Landesherrn fuͤrstliche Familienglieder allein erheben konnten.
Dadurch erwarb sie sich die allgemeine Achtung und Wersschaͤtzung, die
ihren Vorgaͤngerinnen gefehlt hatte. Sie allein durfte auch ihre
Kinder, die Hessensteins, die in zahlreichen Geburten zur Welt kamen
aber meist kein langes Leben hatten, bei sich behalten. Im Kreise
seiner petite famille in dem ihr geschenkten v. Cansteinschen Hause auf
der Bellevue verlebte Landgraf Wilhelm die gluͤcklichsten und gemuͤt⸗
lichsten Stunden seines Lebens.
Im Januar 1790 wurde die Graͤfin Schlotheim zum ersten Male
der landgraͤflichen Familie vorgestellt und zwar durch Vermittelung des
vielgewandten daͤnischen Gesandten v. Waͤchter. Ihr taktvolles Benehmen
und Auftreten erleichterte der Landgraͤfin Caroline die schwere
Aufgabe, sich auch mit dieser letzten Liaison ihres Gemahles abzufinden.
Sie erkannte stillschweigend das Verhaͤltnis Wilhelms zu seinem Kebs⸗
weibe an und war zufrieden damit, daß er ihr alle schuldige Ehre und
Aufmerksamkeit zollte, die der rechtmaͤßigen Gemahlin und Landesfuͤrstin
gebuͤhrten. Sie fuͤhrte mit den beiden Prinzessinnen ihren getrennten
Haushalt, wie sie sich das ausbedungen hatte)), als sie nach Cassel
uͤbersiedelte, empfing aber regelmaͤßig des Landgrafen Besuche, speiste
oͤfters mit ihm zusammen und stand, nicht nur wenn Wilhelm verreist
war, in regem schriftlichen Verkehr mit ihm. Sie gab sich die groͤßte
Muͤhe, den Landgrafen bei guter Laune zu erhalten, und der Ton ihrer
Briefe zeigt oft eine unter den obliegenden Umstaͤnden uͤberraschende
Herzlichkeit. Mochte manches darin konventionelle Liebenswuͤrdigkeit sein,
wenn sie ihn z. B. statt der gewoͤhnlichen Anrede „Mon cher Land—
grave“ mit „mon ange“ anredete, so war es doch wohl mehr als
1) „Die einsamen Wohnungen der sog. regierenden Damen sind, wo nicht zahlreicher,
doch eben so haͤufig als die Witwensitze in Deutschland.“ (GReise einer franzoͤsischen
Emigrantin. Berlin 1793. S. 85.)