Der alte Weißenstein
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Am Abhange des Habichtswaldes, wo einst in schweigender Waldes⸗
ruh „die unbescholtenen Toͤchter des Thales der Heiligen Marie bei
Weißenstein“ ihr nicht immer unbescholtenes Klosterleben fuͤhrten, wo
spaͤter Margarethe von der Saal, Philipps des Großmuͤtigen Neben⸗
frau, ihre Flitterwochen verlebte, da hatte Landgraf Moritz der Ge⸗
lehrte 1600 in dem von ihm erbauten Mauritiolum Leucopetraeum
sich ein kleines Tuskulum eingerichtet, wo er die Sorgen seiner Re—
gierung zu vergessen suchte. Sein Urenkel Carl tuͤrmte hundert Jahre
spaͤter den Riesenbau des Oktogons mit dem Herkules auf den Gipfel
des Winterkastens. Aber sein gigantischer Plan, die von hier ausgehenden
Kaskaden mit einem kolossalen Terassenwasserwerk bis zum Fuße des
Berges fortzusetzen und mit einem imposanten Bauwerk zu beschließen,
das alle Vorbilder weit hinter sich gelassen haben wuͤrde, war, wie viele
Plaͤne des genialen Fuͤrsten, nicht zur Ausfuͤhrung gelangt. Noch immer
stand an der Stelle des ehemaligen Klosters die bescheidene Schoͤpfung
Moritz des Gelehrten, die auch durch die Erweiterungen und Anbauten
Friedrichs II. verhaͤltnismaͤßig nur wenig Veraͤnderungen erfahren
hatte. Die alte urspruͤngliche Einsamkeit der Umgebung war freilich ge⸗
schwunden. Sie war belebt durch eine Unzahl phantastischer, mythologischer
und orientalischer Gebilde aller Art, die den franzoͤsisch zugestutzten Weißen⸗
steiner Park zu einem wahren Freiluftmuseum architektonischer, skulptu—
reller und malerischer Kuriositaͤten) machte. Nicht genug damit hatte
Landgraf Friedrich II., dem Geschmack seiner Zeit folgend, bei besonderen
Gelegenheiten neben der toten Staffage noch lebende Statisten aufgeboten,
die in allerhand Verkleidungen als Chinesen, Tuͤrken, Indianer, Mohren
(diese sogar echt aus Amerika importiert), Eremiten und Moͤnche dem
Wanderer begegneten, der schließlich in naͤchster Naͤhe des Schlosses noch ein
ganzes Chinesendorf en miniature mit Pagode und Moschee antraf.
Den 1. Januar 1786 brachte Wilhelm IX. ganz allein auf dem Weißen⸗
steine zu, ganz beschaͤftigt mit seinen neuen Plaͤnen. „Mein seliger
Vater“, erzaͤhlt er, „hatte mir diesen schoͤnen Flecken Erde in einem
traurigen Zustand der Unordnung hinterlassen. Seit 25 Jahren arbeitete
man hier uͤberall ohne einen bestimmten Plan. Kaum hatte man an
einem Ende des Parkes eine Arbeit in Angriff genommen, so tauchte
reine neue Idee fuͤr das andere Ende auf, die wieder Gelegenheit bot,
irgend etwas Neues anzufangen, um dessen Ausfuͤhrung sich in Wirk⸗
lichkeit doch niemand richtig kuͤmmerte. Rechts und links hatte man die
1) Ein ausfuͤhrliches Verzeichnis derselben, aufgestellt von dem Kabinettssekretaͤr
Friedrichs II. Steinbach, ist abgedruckt im Hessenland 1898, 265f.