Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

Bevoͤlkerungspolitik Aufnahme der Reformen 165 
Hebung der Landwirtschaft ergingen allerlei nuͤtzliche Anregungen uͤber 
Ackerbau, Viehzucht, Gemuͤsegaͤrtnerei und Haushalt, die durch oͤkono— 
mische Zeitschriften und Kalender auf dem Lande verbreitet und sogar 
von den rationalistischen Kanzeln herab mit Eifer gepredigt wurden. 
Der Seidenbau erlangte trotz starker Propaganda durch Geistliche und 
Schullehrer nicht den gewuͤnschten Flor und kam nicht gegen den Flachs⸗ 
bau auf, auf dem das allberuͤhmte hessische Linnengewerbe beruhte. Da⸗ 
gegen wurde die Fruchtbaumzucht, in deren Interesse jedes junge Ehe— 
paar fuͤnf neue Baͤume anzupflanzen haͤtte, erheblich gefoͤrdert, ebenso 
wie die Forstkultur in Hessens weiten Waͤldern, zu deren aͤngstlicher 
Schonung Preise fuͤr Entdeckung von Torfmooren ausgesetzt wurden. 
Nicht so schnell, wie es dem Feuereifer des Landgrafen entsprach, ging 
es mit der Verbesserung des Wegebaus, der gleich nach seinem Re— 
gierungsantritt nach hanauischem Muster reformiert wurde, nach langer 
Vernachlaͤssigung aber noch lange Zeit viel zu wuͤnschen uͤbrig ließ. Der 
alten patriarchalischen Bevoͤlkerungspolitik entsprachen die erneuerten Luxus⸗ 
herordnungen, durch die auch das Tragen von Trauerkleidungen ein⸗ 
geschraͤnkt wurde. Ein zweifelhafter Fortschritt war die den Juden er⸗ 
teilte Erlaubnis, auf den Doͤrfern zu leben, waͤhrend sie in den Staͤdten, trotz 
der Judenfreundlichkeit des Landgrafen, noch mancherlei Beschraͤnkungen 
unterworfen blieben, die aber allmaͤhlich mehr und mehr in Wegfall 
kamen. 
Es verstand sich von selbst, daß das neue Regime nicht uͤberall mit 
dem gleichen Beifall begruͤßt wurde. Der Landgraf fand zwar einen ano— 
nymen Panegyriker, der „Wilhelm IX. und dessen sechs erste Regierungs⸗ 
jahre“) maßlos verherrlichte, aber selbst dieser Lobredner mußte zugestehn, 
daß „die notwendigen Veraͤnderungen und Einschraͤnkungen der itzigen 
Regierung manchen Mißvergnuͤgten machen mußten.“ Es hatte zwar 
nicht viel zu sagen, wenn ein Korrespondent des „Deutschen Museums“ 
sein Bedauern daruͤber ausdruͤckte, daß Cassel dem liebenswuͤrdigen fran⸗ 
zoͤsischen Geschmack Valet gesagt habe, und auch die Behauptung Schlieffens, 
daß die uͤber die Verluste ihrer Sonderrechte unzufriedenen Soldaten 
der ersten Garde einen Mordplan gegen den Landgrafen ausgeheckt 
haͤtten, wurde von diesem mit Recht nicht allzu tragisch genommen. 
Was man dem neuen Regenten besonders vorwarf, war seine Spar⸗ 
1) „Schweiz“ (d. h. Offenbach) 1792. Der angeblich nicht in Hessen, „sondern in 
rinem angrenzenden Lande“ wohnende Autor, war Wilhelm Beck (SGohn des Komman⸗ 
danten des Invalidenbat. zu Carlshafen), der auch die erste hessische Kriegsgeschichte 
berfaßte und spaͤter eine Anstellung als Regierungsarchivar in Rinteln erhielt.
	        
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