Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

162 Reformen Justiz Gesundheitswesen Toleranz 
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Das neue Regime begann mit einer großen Anzahl von Reformen 
auf allen Gebieten. In der Justizpflege bedeutete die schon am 29. No⸗ 
vember 1785 verfuͤgte Abschaffung der Tortur als eines „allzu unsicheren 
mediums eruendae veritatis“ einen bedeutenden Fortschritt, ebenso 
wie die Bestimmung, daß Todesurteile der Patrimonialgerichte von nun 
an der landesherrlichen Bestaͤtigung unterlagen. Das Prozeßverfahren 
sollte beschleunigt werden, und ausfuͤhrliche Bestimmungen erleichterten 
die Prozesse der Untertanen gegen die Oberrentkammer. Die Fiskale 
mußten oft das Land bereisen und dafuͤr sorgen helfen, daß der alte 
Ruf Hessens als eines Landes, in dem unparteiische und prompte Justiz 
administriert wurde, gewahrt blieb. Im Dezember 1787 wurden die 
Oberxraͤmter in Hersfeld, Ziegenhain und Schmalkalden abgeschafft. Die 
Beamten erhielten Uniformen, dunkelblau mit karmoisinrotem Futter und 
goldenen Tressen und Epaulett auf der rechten Schulter. Über ihre Fuͤhrung 
vurden Konduitenlisten angelegt, wodurch den Übergriffen gegen die 
Untertanen vorgebeugt werden sollte. Im Interesse des Gesundheitswesens 
ergingen scharfe Verordnungen gegen Kurpfuscher, Quacksalber und After⸗ 
arzte, die wie die beruͤchtigten „Fuͤrstenwalder“ ) zur Zeit Friedrichs II. 
namentlich das platte Land heimsuchten. Auf dem Lande wurden Physi— 
kate eingerichtet, die Apotheken kontrolliert, eine Hebammenschule be—⸗— 
gruͤndet, die Totenbeschau zum Schutz gegen den gefuͤrchteten Scheintot 
zeregelt und die seuchengefaͤhrlichen Friedhoͤfe aus den Ortschaften in 
deren Nachbarschaft verlegt. Daß Selbstmoͤrder und Sektierer von nun 
an ein stilles, aber ehrliches Begraͤbnis erhielten und nicht mehr ehrlos 
verscharrt wurden, entsprach dem Geist der Duldung, der das neue Re— 
gime noch mehr als das alte kennzeichnete. In Marburg, Hanau und 
Hofgeismar durften die Katholiken jetzt endlich Gottesdienst halten, was 
unter dem katholischen Landgrafen Friedrich noch verboten gewesen war. 
Die Privilegien der Lutheraner wurden erweitert, die Kampfhaͤhne unter 
ihren Seelenhirten aber ermahnt, sich „aller schuldiger moderation“ 
gegen die Reformierten in Lehre und Predigt zu befleißigen. Kinder 
aus gemischten Ehen erhielten das Recht der freien Konfessionswahl, 
sobald sie das 18. Jahr erreicht hatten. Die oͤffentliche Kirchenbuße, 
die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einer einseitigen Strafe 
hauptsaͤchlich fuͤr die Fleischessuͤnden des weiblichen Geschlechts entwickelt 
hatte, wurde durch die mildere Privatzensur ersetzt, die streng reformierte 
1) Über den Bauernquacksalber und Teufelsbanner Daniel Hiedes (J 1760) und 
seinen Nachfolger und Schwiegersohn Daniel Schaub zu Füuͤrstenwalde, die beide auch 
in Cassel eine große Kundschaäft hatten, val. Hessische Beitraͤge 1., 560 ff.
	        
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