Landgraͤfin Philippine Wilhelms Regierungsprogramm 157
denn „wo die ist“, meinte sie, „kann man nicht im Frieden leben“.
Man solle ihr doch goldne Bruͤcken bauen, damit sie ihre fruͤher ge—
aͤußerte Absicht, nach CKoͤpenick bei Berlin zu ziehen, moͤglichst bald aus⸗
fuͤhre. Das tat aber Philippine doch nicht, aber im Mai 1786 ver⸗
ließ sie wenigstens Cassel und nahm ihren Witwensitz in Hanau, wo
ihr die fruͤhere Besitzung des Grafen Molltke eingeraͤumt wurde. Am
—O— auch nicht
sehr ungluͤcklich, als sie ein paar Jahre spaͤter 1792 Hessen uͤberhaupt
verließ, um den Rest ihrer Tage gemeinsam mit ihrem Herzensfreund
Wintzingerode,) den sie angeblich spaͤter am 9. Juni 1796 heim⸗
lich geheiratet haben soll, in ihrer Heimatstadt Berlin zu verleben.
In Hessen war kein Mensch daruͤber im Zweifel, das der Regierungs⸗
wechsel diesmal einen starken Systemwechsel zur Folge haben werde;
denn der neue Regent war kein unbeschriebenes Blatt, wie sonst gewoͤhn—
lich ein Thronfolger. Man wußte, was von ihm zu halten war, seine
zwanzigsaͤhrige Regierungszeit in Hanau hatte sein Wesen und seine
Denkungsart deutlich genug offenbart, um keinen Zweifel daruͤber zu
lassen, daß nun gar manches im Lande anders werden wuͤrde. Deut⸗
licher als die in den traditionellen Redewendungen sich bewegende Ver⸗
kuͤndigung des Regierungsantritts lautete das feierliche Regierungs⸗
programm, das der neue Herrscher schon am ersten Sonntag, den 6. Nov.
in der Schloßkapelle zu Weißenstein durch den Superintendenten v.
Rhoden von der Kanzel verlesen ließ. Es war der Psalm 101, Davids
Regentenspiegel, mit den bedeutsamen Versen: „Ich nehme mir keine
boͤse Sache vor. Ich hasse den Übertreter und lasse ihn nicht bei mir
bleiben . .. Ich mag deß nicht, der stolze Geberde und Hochmuth
hat. Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, daß sie bei mir
wohnen, und habe gern fromme Diener. Falsche Leute halte ich nicht
in meinem Hause, die Luͤgner gedeihen nicht bei mir. Fruͤhe vertilge
ich alle Gottlosen im Lande.“ Das waren Anspielungen, Verheißungen
und Drohungen, die nur zu gut verstanden wurden.
Man kann nicht sagen, daß alle Welt dem bevorstehenden Umschwung
der Verhaͤltnisse mit ungemischter, freudiger Hoffnung entgegen sah.
Landgraf Friedrich II., bei seinem Regierungsantritt mißtrauisch be⸗
begruͤßt, hatte dann in den 25 Jahren seiner Regierung sich einen großen
Schatz von Liebe erworben, so daß die holperigen Verse seines Dichter⸗
grenadiers Joh. Tobias Dick:
1) Georg Ernst Levin v. W. (1752 1834), seit 1788 Oberhofmeister der Landgraͤfin,
1794 Reichsgraf, spaͤter wuͤrttemberg. Minister und Gesandter in Paris und Cassel.