Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

Wilhelm in Cassel 1775 
—F 
Es war ja nicht mehr das alte Cassel seiner Kinderjahre. Die 
Drangsale des Siebenjaͤhrigen Krieges mit den mehrmaligen Belage— 
rungen und Beschießungen der Stadt waren nicht spurlos an ihr voruͤber⸗ 
gegangen. Aber wenn die Casseler Schuͤtzen den nach dem Frieden 
heimkehrenden Landgrafen 1763 mit einem Gedicht hatten begruͤßen 
koͤnnen, in dem es hieß: 
Hier liegt im grausen Schutt von umgestuͤrzten Waͤnden 
Des langen Fleißes Lohn, sonst Deines Cassels Pracht. 
Der raͤuberische Krieg hat mit verwegnen Haͤnden 
Zu leeren Wuͤsten dort manch Paradies gemacht! 
so hatte Landgraf Friedrich II. seitdem Großes getan, um die Wunden 
zu heilen und seine Residenz nicht nur wiederherzustellen, sondern zu 
erweitern und zu verschoͤnern. Cassels Festungswaͤlle waren gefallen 
und auf ihren Truͤmmern Straßen und Plaͤtze angelegt, die die Alt— 
stadt mit der von dem Landgrafen Carl erbauten franzoͤsischen Neustadt 
in gluͤcklicher Weise verbanden. Wo fruͤher die große Bastion des 
Zeugmantels gewesen war, standen die neuen Palaͤste des Friedrichs⸗ 
platzes, von denen das landstaͤndische und das geistliche Haus (die 
katholische Kirche) laͤngst fertig waren, das Museum Friedericianum 
aber seiner Vollendung entgegen ging. Die neue Prachtanlage der 
Rennbahn mit den Kolonnaden verband den Schloßplatz mit der Es— 
planade. Der kreisrunde Koͤnigsplatz war entstanden; an ihm, in der 
Koͤnigsstraße, am Meßplatz und am erneuerten Weißensteiner Tor er⸗ 
hoben sich viele neue, stattliche Gebaͤude, die das Bild der Oberneustadt 
voͤllig veraͤndert hatten. 
Da gab es viel zu sehen fuͤr den Prinzen, der neunzehn lange Jahre 
nicht in der Heimat gewesen war, und sein leicht bewegtes Herz war 
tief ergriffen: „Ich kann gar nicht beschreiben, wie mir zu Mute war, 
als ich die vaͤterlichen Penaten wiedersah, und um so haͤrter empfand 
ich das Gefuͤhl, von ihnen verbannt zu sein, und nicht einmal meinen 
Namen nennen zu duͤrfen an dem Ort, wo ich einmal Herrscher sein 
wüurde.“ Die Hosgesellschaft, soweit sie in Cassel war, nahm keine 
Notiz von des Prinzen Anwesenheit. Er haͤtte gern seinen alten Er— 
zieher Wittorff begruͤßt, der aber ließ sich entschuldigen und gab ab— 
sichtlich eine große Gesellschaft, um fuͤr alle Faͤlle spaͤter sein Alibi 
nachweisen zu koͤnnen. Dafuͤr hatte Wilhelm die Genugtuung, daß 
die einfachen Leute aus der Buͤrgerschaft und dem Volke ihn üͤberall 
herzlich begruͤßten — das Incognito war ja nicht lange aufrecht zu er⸗
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.