Full text: Kurfuerst Wilhelm I. Landgraf von Hessen. Ein Fuerstenbild aus der Zopfzeit

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Regierungswechsel in Mainz 1774 
Eine aͤhnliche Wirkung hatte der Tod des Kurfuͤrsten Emmerich 
Joseph von Mainz, der wenige Wochen nach dem Hinscheiden der 
Darmstaͤdter Landgraͤfin den Prinzen in tiefe Trauer versetzte. Der Kur⸗ 
fuͤrst starb ploͤtzlich am 11. Juni 1774, und am Hanauer Hofe erzaͤhlte 
man sich, er sei von zwei Domherren im Bette erstickt worden, eine da⸗ 
mals viel verbreitete Schauermaͤr, an der Prinz Carl bis an sein Ende 
festhielt ), waͤhrend der Erbprinz nichts davon wissen wollte. Der Ver—⸗ 
lust seines vaͤterlichen Freundes war fuͤr ihn umso schmerzlicher, als der 
Nachfolger des Kurfuͤrsten, der eitle uͤppige Friedrich Carl Joseph 
v. Erthal?), in vielen Punkten das voͤllige Gegenstuͤck zu seinem Vor⸗ 
gaͤnger bildete und auch nie in ein naͤheres Verhaͤltnis zum Hanauer Hofe 
trat. Wilhelm begruͤßte ihn am 3. August 1774 zu seinem Regierxrungs⸗ 
antritt in Mainz. Am 6. Oktober erwiderte der neue Kurfuͤrst mit 
großem Gefolge den Besuch in Hanau und wurde mit allen dem ersten 
Kirchenfuͤrsten des Reiches gebuͤhrenden Ehren empfangen. Er spielte 
sehr den Liebenswuͤrdigen, aber die große Wolke von Weihrauch, die 
er verbreitete, imponierte mehr dem gleichfalls anwesenden bigotten 
Herzog Ludwig von Wuͤrttemberg als dem protestantischen hessischen Erb⸗ 
prinzen, der nur den Kontrast zu dem Vorgaͤnger Erthals empfand. 
Es blieb bei diesem einen Besuch, und Wilhelm ließ sich auch nicht mehr 
so oft wie fruͤher in Mainz und Aschaffenburg sehen. 
Bei seinen vielen Reisen hatte der Erbprinz bisher seine eigentliche 
Heimat, das alte Hessenland, immer peinlich gemieden, weil seine Mutter 
es so gewuͤnscht hatte. Als er aber im Sommer 1775 erfuhr, daß 
sein Vater eine laͤngere Reise nach Holland antreten wollte, und daß 
waͤhrend dieser Zeit auch die Stiefmutter von Cassel abwesend sei, um 
ihr geliebtes Berlin wieder mal zu besuchen, da konnte er dem Ver—⸗ 
langen, die Staͤtten seiner Kindheit wiederzusehen, nicht widerstehen. 
In aller Heimlichkeit brach er incognito, nur von Gall begleitet, uͤber 
Hersfeld, Rotenburg und Melsungen nach Cassel auf und kam am 
16. Juni dort an. Malsburg, der sich in Cassel befand, hatte ihm 
in der „Stadt Stralsund“ Quartier bereitet, und schon um 4 Uhr fruͤh 
am andern Morgen durchstreifte der Prinz die Straßen und Plaͤtze der 
geliebten Vaterstadt, mit entzuͤcktem Auge die alten bekannten Orte be— 
sichtigend und ihre Veraͤnderung und Verschoͤnerung bewundernd. 
1) Denkwuͤrdigkeiten des Landgrafen Carl. S. 21. Nach Muͤller, Die sieben letzten 
Kurfuͤrsten von Mainz (1846) S. 360 wurde Emmerich Joseph von den Jesuiten vergiftet. 
2) Der letzte eigentliche Kurfuͤrst von Mainz, geb. 1719, regierte 177,b - 1802 
und mußte oͤfters aus seiner Hauptstadt fluͤchten, die er 1797 endgiltig verlor. Er starb vor 
dem Reichsdeputationshauptschluß, der den Stuhl von Mainz auf Regensburg uͤbertrug.
	        
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