Die „große Landgraͤfin“ und die russische Heirat 1773 103
großer Aufregung uͤber das von v. d. Asseburg angeregte russische
Heiratsprojekt, das von Friedrich dem Großen, zu dem die Landgraͤfin
enge Beziehungen unterhielt, aus politischen Gruͤnden sehr befuͤrwortet
wurde. Der Plan der Landgraͤfin, nach Petersburg zu reisen und ihre
drei Toͤchter Amalie, Wilhelmine und Luise) dort dem Großfuͤrsten,
spaͤteren Kaiser Paul zur Auswahl zu praͤsentieren, erschien Wilhelm
unwuͤrdig fuͤr eins der ersten regierenden Haͤuser des Reichs, und er hielt
mit seinen Bedenken, die auch der Minister v. Schrautenbach teilte, nicht
zuruͤck. Aber die Landgraͤfin war nicht von dem Plane abzubringen,
und so konnte Wilhelm ihr und ihren Toͤchtern nur eine gluͤckliche Reise
wuͤnschen, als sie am 6. Mai 1773 auf der Fahrt nach der Newa durch
Hanau kamen. Die Wahl des Zaͤsarewitsch fiel auf die Prinzessin
Wilhelmine, die als Natalia Alexeiewna am 10. Okt. 1773 seine
Gemahlin wurde?), aber schon 21/ Jahre spaͤter im Wochenbette starb.
Wilhelm wollte nicht recht an ihren natuͤrlichen Tod glauben, sondern
nahm an, sie sei auf eine aͤhnliche Weise gestorben „wie Peter III. und
andere Große, deren man sich aus politischen Gruͤnden in diesem Lande
zu entledigen weiß“. Es war dies die erste Verbindung des darm⸗
staͤdtischen Hofes mit dem russischen Kaiserhause, die in der neueren Zeit
durch manche andere folgende noch viel enger wurde. Die Landgraͤfin
Caroline starb schon vor ihrer Tochter am 30. Maͤrz 1774 an einer
Krankheit, die sie sich durch die Anstrengungen der russischen Reise zu—
gezogen hatte. Sie erlebte nicht mehr die Hochzeiten ihrer beiden anderen
Toͤchter, von denen Amalie 1774 den Erbprinzen von Baden heiratete,
waͤhrend die juͤngste (Luise) ein Jahr spaͤter die Gemahlin Carl Auqusts
von Weimar wurde.
Seit dem Tode der Landgraͤfin Caroline, der Friedrich der Große
im Darmstaͤdter Schloßgarten eine Urne mit der Inschrift Femina sexu,
ingenio vir widmete, wurden die Besuche Wilhelms am Darmstaͤdter
Hofe seltener. Er wurde zwar zur Hochzeit des Erbprinzen Ludwig
1777 geladen und durfte die Braut, die Cousine des Braͤutigams, fuͤhren,
aber da die Darmstaͤdter Vettern mit ihren Gegenbesuchen kargten, und
namentlich Ludwig IX. niemals in Hanau erschien, so kuͤhlte sich das
Verhaͤltnis zwischen beiden Hoͤfen zu Wilhelms Leidwesen etwas ab
1) Die aͤlteste Tochter Ludwigs IX., Friederike, war seit 1769 mit dem Prinzen
J (Friedr. Wilh. II.) vermaͤblt und wurde die Schwiegermutter Kurfuͤrsi
2) Alis Bedingung seiner Zustimmung zum Religionswechsel seiner Tochter ver⸗
langte Ludwig IX. von der Zarin die Abtretung eines Territoriums, um sich dahin
zuruͤckzuziehen, wenn Preußen die kleinen Staaten verschlaͤnge!
Dalwigks Tagebuͤcher 189.)