Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

„eimat⸗·Schollen 
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst 
s Erjcheinungsweise Amal monatlich. Bezugspreis 1,20 Mbo. im Vierteljahr. Frũhere 
Nr. 10 / 1926 Jahrgãnge kLönnen, soweit noch vorrätig, vom HeimatschollenDerlag nachbezogen werden 
6. Jahrgang 
Kräutern 0 Von 
Conrad Günther. 
VDiele Jahrtausende zurück: Jägerhorden schweifen über 
unser Land, das eben auftaucht aus der Totenstarre der 
letzten Eisseit. Fünf Schädel hab' ich gesehen, an denen 
der Steinzeitmensch die Trepanation ausgeführt hat. An 
vieren ist sie gegiückt, einer ist unter dem Flintmeißelbohrer 
gestorben. — Dann liegt tkiese Nacht über unserem Wissen 
bon ärztlicher Kunst bei unseren Vorfahren, bis mit Kreuz 
und Mönchsgebet die Lehren von Hypokrates und Galenus 
ihren Einzug halten, denen um's Jahr 1000 der NMraber 
Medizinbunde sich beigejellt. Wer da beine Kutte trug, 
mußte vorsichtig jein, wenn er Salben, Tränblein und 
Latwergen bochte, denn die Anklage auf Sauberei und 
Teufelswesen war schnell fertig. Und der heilige Sebastian 
wie die heilige Apollonia hielten sich die Konburrenz 
eifersüchtig vom Halse. Als der Kirche Fesseln gelockert 
waren, wurde auch die ärztliche Kunst frei, aber sie krug 
tiefe Striemen von der tausendjährigen Knebelung, sie hatte 
den pfäffischen Dünkel behalten und lehnte hochmütig alles 
unzünftige Dobtern als Kurpfuscherei ab. So ist uns viel 
unschätzbares Erbgut verloren gegangen, vieles erstickt noch 
heut, überwuchert von törichtem Aberglauben, und erst in 
letzter Zeit besinnt sich die Wissenschaft auf ihre Pflicht, in 
mũhevollem Schürfen Kaff und Korn zu sondern und einzu— 
ragen, was erhalten blieb von unseres Volkes uralter 
Heilbunst. 
Wer hat die „Kräutern“ noch gebannt, sie ging schon 
vornüber, als ich ein Junge war, und hielt im Gehen die 
Hand im Kreuz. „Vieles Bücken biegt den KRücken.“ — 
Die Kräutern hat sich arg viel bücken müssen im Leben, 
nicht vor Menschen, nein für Menschen. — Sprang der 
Frühlinaswind uns entacgen vom Tale her. zwischen der 
Zuppe und den großen Steinen durch, daß die goldenen 
zchlüsselblumen nickten und die Schürze und die Betzelbänder 
er Kräutern vor ihr herflogen, als würde sie dran den 
BZerg heraufgezogen zu uns hin, die wir beim Siegenhüten 
interm Busch lagen, Pfeifen klopften und dazu sangen: 
Saft, Saft, Siede, Humme, Humme, Wiede.“ Drei Buben 
varen wir am Berg, jedem haͤtte sie schon geholfen, und so 
alfen wir ihr gern, sie war ja schon so steif und bonnte 
icht mehr recht fortkommen zwischen den Basaltblöchen 
nd RVollsteinen. Wie ich nichts mehr essen und schlucken 
onnte, weil mein Mund so wund war, hatte sie mir mit 
5albeimus das Sahnfleisch gerieben und gemurmelt: „Helf 
ir der Mann, aus dessen Mund bein Unrecht kam.“ Am 
indern Tag Lonnt' ich in meinen Brokkbnust beißen und tat 
nir nichts mehr weh. Dem Henner hat sie die Warzen 
ertrieben, er hatte so viel wie 'ne Itsche, — blieb beine eine 
ach. Der Karl war mit dem MWesser ausgefahren, grad in 
sie Maus vom Daumen, daß das Blut sprang. Da goß 
ie aus einer Flasche, die in einen Sack gepackt war, Saft, 
er sah gelbrot aus wie Hagebutten, am Licht wurde er 
hwarz, und sprach dazu: „Er hatte 5 Wunden, Thomas hat 
ie gesehn, aus deiner Wunde soll bein Blut mehr gehn.“ 
Und das Blut stand, und die Hand wurde heil. 
Wir huckelten ihr die Kötze ab, und während sie vom 
5teigen ausruhte, liefen wir auf der Hute herum und gruben 
Zlukwurzeln auf dem Hungerland. „Die Blutwurzel wächst 
uf dürrem Grund, von der Auszehrung macht sie gesund,“ 
atte die Kräutern uns gelehrt. Die Blutwurzel hat ein 
elbes Blümchen, vier Blätter im Kreuz und eine lange 
ünne Kattenschwanzwurzel, die bohrt sich tief durch die 
Steine und ist schwer auszuziehen. Daheim kbamen sie in
	        
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