Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

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Oon einer Urgroßmutter mũtterlicherseits waren viele Geschwister 
nach Amerika gegangen. Auch wohnte ein Bruder meines Vaters 
hrũben. An der Hand der Mutter besuchte ich oft die Großmutter 
in Kerspenhausen. Im Walde zwischen Holzheim und Kerspen⸗ 
ausen stand eine uralte Eiche, die Judeneiche. Da ging der Weg 
steil bergab ins „Götzenrod“ hinein, ein schmales Wiesental mit 
Srunnen. Dort, so erzählte meine Mutter, stand einst ein Hof. 
Der Bauer war Güterschlächtern in die Hände gefallen und sah 
schon die Schlinge an seinem Hals. Einer, der ärgste von allen 
und ein wahrer Blutegel, mochte ihn wohl besonders hart zwicken. 
Eines Tages wußte sich der Schuldenbuckel beinen anderen Rat 
mehr, als heimlich nach Amerika zu gehen. Doch wollte er seinem 
Plageteufel erst noch einen Streich spielen. Er stellte einen Topf 
boll Petroleum auf einen Scheunenbalken und eĩne große, brennende 
Kerze hinein. Drei Tage nach seinem Verschwinden, als er schon 
auf hoher See schwamm, brannte das ganze Gehöft rumpf und 
tumpf ab. Ich weiß noch heute, wie lebhaft ich mir als Kind das 
Besicht des dummen, betrogenen Teufels vorstellte, als er an dem 
Schutt· und Aschenhaufen des Hofes stand, den er schon sein eigen 
gewähnt hatte. So hatte sich der Bauer im Götzenrod der Schuld- 
mechtjchaft entzogen. Auch da, wo in unsozialer Weise der Grund 
und Boden in der Hand eines Besitzers war, wie in Wollstein 
am Eisberg, wo noch die unfruchtbare Höhenlage hinzukam, mußten 
die Alteingesessenen zum Wanderstecken greifen. Sle waren nichts 
als Taglöhner des Gutshofes, und es bestand nicht die geringste 
Aussicht, wirtschaftliche Selbständigkeit zu erringen. So Lam es, 
daß in den siebziger und achtziger Jahren das ganze Dorf Woll- 
stein mit Ausnahme des Gutes verlassen wurde, die Kirche, darin 
noch um 1895 der Hasselbacher Lehrer jeden 2. oder 8. Sonntag 
Lesegottesdienst zu halten hatte, verfiel allmählich, ihre Pforte 
blieb unverschlossen und ihre Glocke stumm. 
VVielfach waren auch politische Unfreiheit und Knebelung der 
reĩien Meinung die Triebbräfte der Auswanderung. So mußte 
Karl Schurz, nachdem er Gottfried Kinbel aus dem Kerker befreit 
hatte, den Staub des Daterlandes von den Füßen schütteln. Mit 
hm ging einer der Besten in die Fremde. Es waren sehr oft 
gerade die ehrlichsten und füchtigsten Geister, die dem Vaterland 
berloren gingen. Reben dea Männern von Namen stehen Tausende 
ohne Namen, schlichte, freiheitsliebende Männer, die das Land der 
Freiheit lockte. Viele lebten auch nur als Flüchtlinge draußen, 
am später wieder heimzubehren. Es sei nur an Freiligrath er⸗ 
nnert, der, nachdem er selin revolutionäres Glaubensbebenntnis in 
Liedern abgelegt hatte, nach London fliehen mußte, wo auch Kinkel 
zine Suflucht fand Der scheidenden Frau Ida Freiligrath schrieb 
iein Geringerer als Gottiried Keller dies Albumblatt (1846): 
So ist es doch betrũbt zu klagen, 
Wenn deutsche Mütter den Khein hinab.— 
Hinab und über des Meeres Grab 
Die zarten Wichkelbindlein tragen 
Nach freier Länder Gestaden hin, 
Indes die Männer auf weiten Wegen 
Hetrennt, bekümmert zum Siele fliehn! 
Ich streue meinen leichten Segen 
Fast ftrauernd in dein Frauenherz; 
Fahr glũcklich denn rheinniederwärts 
Und finde Leut' in allen Reichen, 
Die gute Milch dem Kindlein reichen, 
Und auf den Schiffen, wenn es schreit, 
Fin Publikum, das ihm verzeiht! 
Ddes Keimes wegen, als ein Schweizer, 
WMüũnsch ich dir einen nũchternen Heizer, 
Der da vorsichtig, janft und lind 
Das Schiff dich ktragen läßt mit dem Kind .. 
Und weil die Guten dieser Erden 
Noch lange Tage wandern werden, 
So mache die Ferne das Herz euch, satt 
Mit allem Besten, was sie hat! 
Sie fũlle freundlich euch die Truh' 
Und geb' euch leichte Sorgen am Tag, 
Des Abends Nachtigallenschlag, 
Zur Nachtzeit aber die goldene Ruh; 
Des Sommers Frucht, des Frühlings Sier, 
In England immer vom besten Bier, 
Den Fisch im Wasser, den Vogel der Luft, 
NUur beinen Boden zu einer Gruft; 
Denn in der Heimat sollt ihr sterben 
Und euern Kindern die Freiheit vererben! 
Selten ist wohl eine deutjche Frau und Mutter mit einem 
besseren und humorvolleren Dichtersegen in die Fremde gegangen 
als Frau Ida Freiligratkh. Auch Geora Herwegh. der mit seinem 
krompetenstoß „Gedichte eines Lebendigen“ die Revolutions- und 
)roletenlhris weckte, mußte Deutschland meiden und in Paris und 
der Schweiz leben. Der größte Teil aber der mit den politijchen 
derhältnisjsen daheim Unzufriedenen ging für immer nach Amerika 
md wurzelte dort. 
Es sind auch nicht wenige, die aus anderen Grũnden die alte 
veimat aufgaben. Manch ein junger, rauflustiger Bursche, der 
nt dem Sirafgesetz in Widerspruch geraten war, bonnte auf diese 
Veise der drohenden Strafe entgehen. Er ließ sich von einem 
ndigen Kopf die notigen Papiere durch Fälschung beschaffen und 
jachte sich dann auf und davon. So besorgte ein hessischer Dorf- 
ürgermeister jahrelang solche Keisepässe und tat auch noch ein 
hriges: brachte seine Schützlinge sicher bis aufs Schiff. Solche 
eute nannte man mit verständnisvollem Lächeln „Seelenverbäufer“. 
zie waren das, was später die Agenten der großen Schiffahrts- 
eselljchaften und Auswanderungsunternehmer waren. Jeder, der 
ie Polizei zu fürchten hatte, wandte sich an sie, die alles Nötige 
eschafften und den, dem der Boden unter den Füßen brannte, 
uf den Schub brachten. Ein Gesetz vom 9. Juni 1801 verbot die 
zeförderung von Wehrpflichtigen unter 25 Jahren und von Leuten, 
ie gerichtlich verfolgt sind. 
Reben wirtschaftlicher Mi, politischer Unfreiheit und drohender 
5frafe war es auch die Abenteuerlust, die manchen hinaustrieb. 
dem Deutschen liegt die Wanderlust ebenso im Blut wie das 
deimweh. Die rätselhafte, von Wundern volle Ferne lockte seine 
hweifenden Gedanken; die Sucht nach dem Fremden, nach dem, 
has weit her ist, ließ ihn nicht bleiben, und so wagte der jiunge 
deutsche den Flug in die Welt. 
Mancher, der ausflog, vergaß draußen gar bald sein altes 
lest, bejonders dann, wenn es ihm gut erging. Doch unzählige 
anden das Glück nicht, das sie suchten, und gingen elend zu 
zrunde, schmerzlich der alten Heimat gedenbend. Sie waren 
inem Traumbild, einer Fata Morgana, nachgejagt und „haͤtten 
eder Glück noch Stern und sind verdorben, gestorben“. Doch 
iele, die da drüben ihr gutes Ausbommen fanden, bewahrten der 
eimat ein treues Gedenken, blieben in Fühlung mit ihr, hielten 
re Muttersprache fest und nannten sich mit Stolz Deutsche. Aus- 
ahmen beslaͤtigen auch hier die Kegel. Und eine solche Aus- 
ahme findet sich in einer alten Handschriftensammlung des am 
5. Januar 1851 3u Körle geborenen Heinrich Arend. Diese 
zammlung enthält ein langaimiges Gedicht, das uns zeigt, wie 
in Deutscher in Amerika jedes gesunde Augenmaß für die VDer- 
ãltnisse seiner Heimat verlieren Lann. Der Verfasser schilt in 
erber Weise auf Fürsten, Adel, Geistlichkeit, Advokaten, KRichter, 
Seamte, Polizei, Wehrpflicht, „harte Fabrikanten und Juden“, 
surzum auf alles Deutsche. Ameriba und alles Amerikanische 
obi er über den grünen Klee. Die Abschrift des Gedichtes ist 
im 20. April 1836 von Heinrich Arend, dem Großvater des oben 
Erwähnten, angefertigt. Wahre VDaterlandsliebe und echtes Heimat- 
Jefühl, die den Grundsatz: Wo mir's gut geht, da ist mein VDater⸗ 
and — nicht als alleinseligmachend anerbennen, werden die hier 
polgenden Proben als das nehmen, was sie sind: Beweise von der 
raurigen Derstiegenheit und Arteilslosigkeit eines Deutschen, der 
sich von jeinem Volkstum bewußt abwendet. Die Verse sind über⸗ 
schrieben; „Sinnreiche Einfälle in Stunden froher Laune ũber mein 
Oaterland Europa, verglichen mit der Staatsverfassung und Landes- 
beschaffenheit der verdienken Amerikbanischen Staaten — gewidmet 
für meine europäischen Freunde im Königreich Hannover, verfaßt 
pon Franz Lahmehér, Baltimore, gedruckt auf Kosten des Ver⸗ 
fassers am 25. Januar 1838. — 
Melodie hierauf: Jüngling, willst du dich verbinden, die beiden 
letten Seilen mũssen wiederholt werden.“ Und nun beginnt der Sänger: 
Heil die, Columbus, sei gepriesen, 
Seĩ hoch geehrt in Ewigkeit! 
Du hast uns einen Weg gewiesen, 
Der uns aus harter Dienstbarkeit 
Erretten Kann, wenn man es wagt 
Und seinem Vaterland entjagt. 
Wir sehn mit wehmutsvollen Blicken 
In die vergangene Seit zurück. 
Ja, wir verwünschen die Geschicke, 
Die euch mit Sklavenfesseln drückt, 
Vo euch beständig bis zum Tod 
Die harte Sklavenpeitsche droht. 
habt ihr bei allen euren Sorgen 
Auch oftmals nicht das liebe Brot, 
Bringt euch ein jeder neue Morgen 
Nur neuen Gram und Huugersnot, 
So trõstet eure Kinder da 
Mit diesem Land Ameriba.
	        
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