Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

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Aus alter Seit. 
Auswanderung heute und vor Seiten. 
Von Heinrich Ruppel. 
Schãtzungsweise verließen im vorigen Jahre“) 40000 Deutjsche 
hre Heinat, um sich anderswo dauernd nĩederzulassen. Das ist 
eine hohe Siffer, zumal wenn man in Erwägung zieht, daß sich 
die Vereinigten Staaten, Kanada und Nustralien aus politijch⸗ 
wirtschaftlichen Bedenben der Einwanderung noch verschließen und 
daß nach deutschen Begriffen von heute zur Aberfahrt allein jchon 
ein Verindgen gehört. Wenn erst jene Länder sich wieder der 
xẽinwanderung offnen und die deutsche Marb nur ein wenig steigt, 
derden die Rusbanderungsziffern noch beträchtlich höher schnellen. 
Ist doch unjer Seben zur Seit nichts als ein mũhsames den⸗ Preisen⸗ 
Nachklettern. Schwindelnd hoch sind sie schon, und immer noch ist 
das Ende nicht abzusehen. Täglich hofft der, ehrliche Deutsche, 
den Sipfel der Sorgen und Nõöteé erstiegen zu haben, und täglich 
muß er sich eingestehen, daß seine Hoffnung eitel ist. An den 
eden Augenblide möglichen Absturz in den Abgrund will man 
ncht denten. Von diesem Berg der Sedrängnisse, den wir 
rliettern. richtet mancher junge, wagemutige Deutsche seinen 
Slick in die Ferne, „ũber die große Pfutze“ hinweg, in die Neue 
Velt hinein. In Bollarika glauben auch heute noch viele das 
Zluck zu finden, wenn auch nicht mit Goldgraben wie ehedem in 
Vild⸗West. so doch durch deulsche Unternehmungslust, durch deutschen 
Fleiß und Geist. Letzten Endes liegen die Arsachen der Aus⸗ 
danderung in dem Niederbruch Deutschlands, im VOeelust seiner 
größten Kornkammer (Provinz Posen) und der schwarzen Dia 
anten des Saarlandes und Oberschlesiens, im Susammengedrängt 
ein eines wochsenden Volkes mit vielen deutschen Rũckwanderern 
und fremden Eindringlingen, die zumeist Geschãftemacher sind, auf 
tark verkleinerter Bodenfläche uñnd in der daraus sich erklaͤrenden 
Abervolterung. Das Keichswanderungsamt in Berlin will neuer— 
dings die Auswanderer ũüber Siele, Wege und Aussichten der 
Auswanderung beraten und aufklären. Es will den Strom der 
euischen Siedler dahin lenken, wo die Auswanderer neben wirt⸗ 
chaftlicher Entwicklung ihr Deutschtum möglichst wahren können 
An Abervollerung hatte das Deutschland von 1840-50 Leines 
wegs zu leiden, und doch kbehrten viele der Heimat den Rücken 
vdon 1820. 1804 sind ungefähr sechs Millionen Deutsche aus. 
gewandert, vielfach von Not getrieben. Die ungelõste Brotfrage 
gab ihnen den Antrieb zur Quswanderung. Sie m wollten der 
gänzlichen Verelendung und Ausbeutung entgehen. Denn der 
Seist der Gemeinsambkeit hatte noch nicht die geringste Selbsthilfe 
ganisiert, wie das später von Fr. W. Kaiffeijen mit so großem 
Erfolge geschah. Uber die Auswanderung aus unjerer engeren 
Heimat schreibi Dr. Ph. Losch in seiner sehr empfehlenswerten 
Geschichte des Kurfürstentums Hessen“: „1852 und 1853 wanderten 
über 6000 Hessen aus, und in dem Auswandererrebordjahr 1854 
stieg die Sahi sogar auf ũber 0000, um von da an wieder starl 
bzunehmen. Verhãltnismäßig die meisten Auswanderer lieferten 
ie Kreije Kotenburg, Fritziar und Kirchhain. Die städtische Se⸗ 
odlkerung war wenig beteilgt, vlelmehr gehörten die Auswanderer 
ast ausschließlich den bleinbäuerlichen Kreisen an, die sich um 
Politik und Verfassungsfragen wenig bũmmerten. Die Aus⸗ 
danderung war im wesentlichen eine Folge der allgemeinen wirt 
chaftlichen Lage Deutschlands. Das Huftreten der Kartoffel⸗ 
wanbheit und die Mißernten der Teuerungsjahre 1832 -51, zum 
Teu auch schreckliche Brandbatastrophen, wie dĩie Brände von 
Fronhausen, Neubirchen““) und Waldkappel) imJahre 1854, hatten 
die geringer bemitteite Flasje der ackerbautreibenden Sevölkerung 
n eine mißliche Lonomische Lage verseht und dem allgemeinen 
Strom der Auswanderer nach dem gelobten Lande des Goldes 
ind der Freiheit zugeführt. Auch der Sieg der Eijenbahnen war 
nicht ohne wirtschaftliche Opfer erfochten worden. Das schnelle 
Oerbehrsmittel offnete dem Durchgangshandel neue Wege und 
parf dafür andere, seitabliegende Gegenden zurũck. Die alten 
Handelsjtraßen, die Kurhessen durchzogen, fingen an zu verõden, 
hesonders in den sũdostlichen Landesteilen. Die meisten hessischen 
Auswanderer gingen nach den Dereinigten Staaten, aber auch in 
Sudamerila in der chilenischen Provinz Valdivia, in Osorno und 
in Elanquihue-See bildeten sich hessische Kolonien.“ — In manch 
einem Dorfe des Kreises Hũnfeld gingen derzeit an die hundert 
Webstũhle und mehr. wie 5. B. in Langenschwarz. Die gewoebte 
Dare wurde an Tuͤchfirmen in Fulda. Schlitz und Alsfeld geliefert. 
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424* 98. Obt. 1884. machte etwa 1000 Menschen obdachlos. 
Die armen Weber, nur in einer Beziehung reich, nämlich binder· 
eich, Lonnten vom Ertrag ihrer Arbeit nicht leben und nicht sterben. 
Sie klapperten aum das tägliche Brot aus dem Webstuhl heraus, 
die eine Kedensart jener Gegend besagt. Ihre Söhne, oft genug 
nuch die Toöchter, schnürten ihr Bündel und sjagten der Heimat 
Ade, um drüben ihr Glück zu suchen. Zur Scheidestunde ver⸗ 
ammelten sich ihre „Pfarrbameraden“, wohl auch alle Dorfbewohner 
bor ihrer Tür und sangen das bebannte Lied: 
Jetzt ist die Zeit und Stunde da, 
Wir ziehen nach Amerika; 
Der Wagen steht schon vor der Tür, 
Mit Weib und Kindern ziehen wir. 
Ade, ihr Freunde und Bebannt'! 
Keicht mir zum letztenmal die Hand! 
Ihr Freunde, weint nur nicht zu sehr! 
Wier sehn uns nun und nimmermehr. 
Und als wir kLamen in Bremen an, 
Da hieß es gleich: Ihr Brũder, heran! 
Doͤrt an dem Afer steht das Schiff, 
Nun wird ein Liedchen angestimmt. 
Das Schijf schon in dem Hafen stand: 
Keicht mir zum letztenmal die Hand! 
Wir furchten Leinen Wasserfall 
Und denkben: Gott ist überall. 
And als wir bamen nach Baltimor', 
Da streckten wir die Händ' empor 
Und riefen laut: Vibtoria! 
Jetzt sind wir in Ameriba. 
Amerika, du schoͤnes Land— 
Du bist der ganzen Welt bebannt, 
Da wächst der Klee drei Ellen hoch, 
Da gibt es Brot und Fleisch genug. 
And als wir bamen in die Müst' hinein, 
Da ließen wir das Singen sein. 
Der Muͤßiggang ist nun vorbei, 
Es muß nun stramm gearbeit't sein. 
So singend, gab man den auswandernden Brüdern und 
ʒchwestern ein gut Stũck Weges das Geleit. In Bebra nahm 
je Bahn die Auswanderungslustigen auf, um sie nach Bremen 
der Sremerhaven zu bringen. Dort wartete das Schiff ihrer. 
zin Sommer 1882 sah Ferdinand Freiligrath in Amsterdam aus- 
bandernde Schwarzwalder das Schiff besteigen. Seine Eindrũcke 
ind Gefühle schildert er in dem uns aus der Schule bekannten 
Hedicht Die Auswanderer“: 
Ich kLann den Blick nicht von euch wenden, 
Ich muß euch anschaun immerdar; 
Wie reicht ihr mit geschäft'gen Händen 
Dem Schiffer eure Habe dar! 
Das Gedicht ist prächtig in seiner Plastil. Doch hat wohl der 
Dichter die Gestalten und den Augenblick des Scheidens ein wenig 
chön gefärbt, jagen wir;: poetisch verblärt. Vor neun Jahren hatte 
ch am Hafen von Rotterdam Gelegenheit, dasselbe Bild, wenn 
iuch in dunkleren Farben, zu sehen. Nicht freundliche, saubere 
zchwarzwaldleute waren es, sondern jchmutzstarrendes polnisches 
der siowalisches Volk mit Sumpen auf dem Leibe und Kindern 
Sundein. Eine Armut zum Erbarmen! Von jfurchtbarer Not 
bgestumpft, ohne einen Schein von Hoßffnung im Gesicht, lagen 
e“ duf dem Pflaster am Spoorweg⸗ Hafen, vor den bilometerlangen 
dagerhäusern, deren jedes in Riesenlettern den Namen einer 
ollãndijchen Kolonie trãgt. Ob diese Menschentrũmmer das Siel 
hrer Träume je erreichen wũrden, war mir zweifelhaft. Freilig- 
aths „Auswanderer“ mõgen uns an den ruhe· und rastlosen Dichter 
fsillaus Senau erinnern, der gieich jeinem „Ahasver“, dem ewigen 
zjuden, von Ort zu Ort zog und endlich europamũde, auch zur 
euen Welt hinüberstreifte (1832 —38), wenn, auch nicht gerade 
on VNot getrieben. Der melancholische Poet hatte nicht bedacht, 
aß man da drüben Arbeiter braucht und beine Träumer. Doch 
rachte er von seiner Fahrt ũber den Ozean und von jeinem 
ufenthalt im Urwald und ain Niagara eine reiche Ernte stimmungs⸗ 
hwerer Gedichte mit zurũck. In einem Srief vom 16. 10. 1832 
chreibt er aus Baltimore an Schurz: „Das Meer ist mir zu 
derzen gegangen. Das sind die ztoei Hauptmomente der Natur, 
se mich gebisdet haben: das Atlantijche Meer und die öster⸗ 
eichischen Alpen.“ Aus der Kindheit entsinne ich mich noch gern 
her Erzaͤhlungen der Mutter von „unseren Verwandten in Amariba“.
	        
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