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Aus alter Seit.
Auswanderung heute und vor Seiten.
Von Heinrich Ruppel.
Schãtzungsweise verließen im vorigen Jahre“) 40000 Deutjsche
hre Heinat, um sich anderswo dauernd nĩederzulassen. Das ist
eine hohe Siffer, zumal wenn man in Erwägung zieht, daß sich
die Vereinigten Staaten, Kanada und Nustralien aus politijch⸗
wirtschaftlichen Bedenben der Einwanderung noch verschließen und
daß nach deutschen Begriffen von heute zur Aberfahrt allein jchon
ein Verindgen gehört. Wenn erst jene Länder sich wieder der
xẽinwanderung offnen und die deutsche Marb nur ein wenig steigt,
derden die Rusbanderungsziffern noch beträchtlich höher schnellen.
Ist doch unjer Seben zur Seit nichts als ein mũhsames den⸗ Preisen⸗
Nachklettern. Schwindelnd hoch sind sie schon, und immer noch ist
das Ende nicht abzusehen. Täglich hofft der, ehrliche Deutsche,
den Sipfel der Sorgen und Nõöteé erstiegen zu haben, und täglich
muß er sich eingestehen, daß seine Hoffnung eitel ist. An den
eden Augenblide möglichen Absturz in den Abgrund will man
ncht denten. Von diesem Berg der Sedrängnisse, den wir
rliettern. richtet mancher junge, wagemutige Deutsche seinen
Slick in die Ferne, „ũber die große Pfutze“ hinweg, in die Neue
Velt hinein. In Bollarika glauben auch heute noch viele das
Zluck zu finden, wenn auch nicht mit Goldgraben wie ehedem in
Vild⸗West. so doch durch deulsche Unternehmungslust, durch deutschen
Fleiß und Geist. Letzten Endes liegen die Arsachen der Aus⸗
danderung in dem Niederbruch Deutschlands, im VOeelust seiner
größten Kornkammer (Provinz Posen) und der schwarzen Dia
anten des Saarlandes und Oberschlesiens, im Susammengedrängt
ein eines wochsenden Volkes mit vielen deutschen Rũckwanderern
und fremden Eindringlingen, die zumeist Geschãftemacher sind, auf
tark verkleinerter Bodenfläche uñnd in der daraus sich erklaͤrenden
Abervolterung. Das Keichswanderungsamt in Berlin will neuer—
dings die Auswanderer ũüber Siele, Wege und Aussichten der
Auswanderung beraten und aufklären. Es will den Strom der
euischen Siedler dahin lenken, wo die Auswanderer neben wirt⸗
chaftlicher Entwicklung ihr Deutschtum möglichst wahren können
An Abervollerung hatte das Deutschland von 1840-50 Leines
wegs zu leiden, und doch kbehrten viele der Heimat den Rücken
vdon 1820. 1804 sind ungefähr sechs Millionen Deutsche aus.
gewandert, vielfach von Not getrieben. Die ungelõste Brotfrage
gab ihnen den Antrieb zur Quswanderung. Sie m wollten der
gänzlichen Verelendung und Ausbeutung entgehen. Denn der
Seist der Gemeinsambkeit hatte noch nicht die geringste Selbsthilfe
ganisiert, wie das später von Fr. W. Kaiffeijen mit so großem
Erfolge geschah. Uber die Auswanderung aus unjerer engeren
Heimat schreibi Dr. Ph. Losch in seiner sehr empfehlenswerten
Geschichte des Kurfürstentums Hessen“: „1852 und 1853 wanderten
über 6000 Hessen aus, und in dem Auswandererrebordjahr 1854
stieg die Sahi sogar auf ũber 0000, um von da an wieder starl
bzunehmen. Verhãltnismäßig die meisten Auswanderer lieferten
ie Kreije Kotenburg, Fritziar und Kirchhain. Die städtische Se⸗
odlkerung war wenig beteilgt, vlelmehr gehörten die Auswanderer
ast ausschließlich den bleinbäuerlichen Kreisen an, die sich um
Politik und Verfassungsfragen wenig bũmmerten. Die Aus⸗
danderung war im wesentlichen eine Folge der allgemeinen wirt
chaftlichen Lage Deutschlands. Das Huftreten der Kartoffel⸗
wanbheit und die Mißernten der Teuerungsjahre 1832 -51, zum
Teu auch schreckliche Brandbatastrophen, wie dĩie Brände von
Fronhausen, Neubirchen““) und Waldkappel) imJahre 1854, hatten
die geringer bemitteite Flasje der ackerbautreibenden Sevölkerung
n eine mißliche Lonomische Lage verseht und dem allgemeinen
Strom der Auswanderer nach dem gelobten Lande des Goldes
ind der Freiheit zugeführt. Auch der Sieg der Eijenbahnen war
nicht ohne wirtschaftliche Opfer erfochten worden. Das schnelle
Oerbehrsmittel offnete dem Durchgangshandel neue Wege und
parf dafür andere, seitabliegende Gegenden zurũck. Die alten
Handelsjtraßen, die Kurhessen durchzogen, fingen an zu verõden,
hesonders in den sũdostlichen Landesteilen. Die meisten hessischen
Auswanderer gingen nach den Dereinigten Staaten, aber auch in
Sudamerila in der chilenischen Provinz Valdivia, in Osorno und
in Elanquihue-See bildeten sich hessische Kolonien.“ — In manch
einem Dorfe des Kreises Hũnfeld gingen derzeit an die hundert
Webstũhle und mehr. wie 5. B. in Langenschwarz. Die gewoebte
Dare wurde an Tuͤchfirmen in Fulda. Schlitz und Alsfeld geliefert.
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424* 98. Obt. 1884. machte etwa 1000 Menschen obdachlos.
Die armen Weber, nur in einer Beziehung reich, nämlich binder·
eich, Lonnten vom Ertrag ihrer Arbeit nicht leben und nicht sterben.
Sie klapperten aum das tägliche Brot aus dem Webstuhl heraus,
die eine Kedensart jener Gegend besagt. Ihre Söhne, oft genug
nuch die Toöchter, schnürten ihr Bündel und sjagten der Heimat
Ade, um drüben ihr Glück zu suchen. Zur Scheidestunde ver⸗
ammelten sich ihre „Pfarrbameraden“, wohl auch alle Dorfbewohner
bor ihrer Tür und sangen das bebannte Lied:
Jetzt ist die Zeit und Stunde da,
Wir ziehen nach Amerika;
Der Wagen steht schon vor der Tür,
Mit Weib und Kindern ziehen wir.
Ade, ihr Freunde und Bebannt'!
Keicht mir zum letztenmal die Hand!
Ihr Freunde, weint nur nicht zu sehr!
Wier sehn uns nun und nimmermehr.
Und als wir kLamen in Bremen an,
Da hieß es gleich: Ihr Brũder, heran!
Doͤrt an dem Afer steht das Schiff,
Nun wird ein Liedchen angestimmt.
Das Schijf schon in dem Hafen stand:
Keicht mir zum letztenmal die Hand!
Wir furchten Leinen Wasserfall
Und denkben: Gott ist überall.
And als wir bamen nach Baltimor',
Da streckten wir die Händ' empor
Und riefen laut: Vibtoria!
Jetzt sind wir in Ameriba.
Amerika, du schoͤnes Land—
Du bist der ganzen Welt bebannt,
Da wächst der Klee drei Ellen hoch,
Da gibt es Brot und Fleisch genug.
And als wir bamen in die Müst' hinein,
Da ließen wir das Singen sein.
Der Muͤßiggang ist nun vorbei,
Es muß nun stramm gearbeit't sein.
So singend, gab man den auswandernden Brüdern und
ʒchwestern ein gut Stũck Weges das Geleit. In Bebra nahm
je Bahn die Auswanderungslustigen auf, um sie nach Bremen
der Sremerhaven zu bringen. Dort wartete das Schiff ihrer.
zin Sommer 1882 sah Ferdinand Freiligrath in Amsterdam aus-
bandernde Schwarzwalder das Schiff besteigen. Seine Eindrũcke
ind Gefühle schildert er in dem uns aus der Schule bekannten
Hedicht Die Auswanderer“:
Ich kLann den Blick nicht von euch wenden,
Ich muß euch anschaun immerdar;
Wie reicht ihr mit geschäft'gen Händen
Dem Schiffer eure Habe dar!
Das Gedicht ist prächtig in seiner Plastil. Doch hat wohl der
Dichter die Gestalten und den Augenblick des Scheidens ein wenig
chön gefärbt, jagen wir;: poetisch verblärt. Vor neun Jahren hatte
ch am Hafen von Rotterdam Gelegenheit, dasselbe Bild, wenn
iuch in dunkleren Farben, zu sehen. Nicht freundliche, saubere
zchwarzwaldleute waren es, sondern jchmutzstarrendes polnisches
der siowalisches Volk mit Sumpen auf dem Leibe und Kindern
Sundein. Eine Armut zum Erbarmen! Von jfurchtbarer Not
bgestumpft, ohne einen Schein von Hoßffnung im Gesicht, lagen
e“ duf dem Pflaster am Spoorweg⸗ Hafen, vor den bilometerlangen
dagerhäusern, deren jedes in Riesenlettern den Namen einer
ollãndijchen Kolonie trãgt. Ob diese Menschentrũmmer das Siel
hrer Träume je erreichen wũrden, war mir zweifelhaft. Freilig-
aths „Auswanderer“ mõgen uns an den ruhe· und rastlosen Dichter
fsillaus Senau erinnern, der gieich jeinem „Ahasver“, dem ewigen
zjuden, von Ort zu Ort zog und endlich europamũde, auch zur
euen Welt hinüberstreifte (1832 —38), wenn, auch nicht gerade
on VNot getrieben. Der melancholische Poet hatte nicht bedacht,
aß man da drüben Arbeiter braucht und beine Träumer. Doch
rachte er von seiner Fahrt ũber den Ozean und von jeinem
ufenthalt im Urwald und ain Niagara eine reiche Ernte stimmungs⸗
hwerer Gedichte mit zurũck. In einem Srief vom 16. 10. 1832
chreibt er aus Baltimore an Schurz: „Das Meer ist mir zu
derzen gegangen. Das sind die ztoei Hauptmomente der Natur,
se mich gebisdet haben: das Atlantijche Meer und die öster⸗
eichischen Alpen.“ Aus der Kindheit entsinne ich mich noch gern
her Erzaͤhlungen der Mutter von „unseren Verwandten in Amariba“.