Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

„Ich werde unter fremdem Namen in ein anderes Kegiment 
eintreten.“ „Und mein Kind soll ich der Gefahr aussetzen, 
daß es verwildert?“ „Der König hält den Soldatenkindern 
Schulen im Lager.“ Ihr Gosicht färbte sich dunkelrot, und 
hre Augen lohten. „Ist es wahr, daß eine Kanonenkugel 
in die Lagerschule ging und drei oder vier Kindern die 
Köpfe abriß?“ „Hat das dein Dater erzählt?“ fragte ich 
itter. „Was tuts, wer es gesagt hat! Ist es wahr?“ 
„Ich weiß es nicht! Es wird wohl ein Märlein sein!“ 
„Ich müßte mein Kind nicht lieben, wenn ich es dieser Ge— 
ahr aussetzen wolltel!“ Sie stand vor mir und sah mir in 
die Augen, als fühlte sie sich stark in ihrer Mutterliebe. 
Ich konnte ihr nichts erwidern und wußte doch, daß un— 
widerbringliche Minuten verrannen. Endlich wandte sie sich 
dem Hause zu. „Du gehst nicht mit mir?“ fragte ich noch 
einmal. „Nein!“ antwortete sie, indem sie mich verließ. Ich 
sttarrte eine Zeitlang regungslos zu Boden. Dann fiel mir 
ein, sie müjje wohl gegangen sein und ich sah auf: sie war 
schon in der Türe verschwunden. Da trat ich in das Haus, 
nahm die Armbrust von der Wand und stürmte in den 
Vald hinaus, obwohl es dunbelte... 
Der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Finsternis 
im dichten Forst wurde undurchdringlich. Ich rannte plan— 
los und gedankenlos, wohin mich meine Füße trugen, bis 
ich den Weg verlor und meine Stirne wider einen Baum— 
tamm stieß. Da jetzte ich mich auf einen Wurzelstock, stützte 
das Kinn und stierte vor mich in die Finsternis .. Wie 
lang ich so gesessen, weiß ich nicht. Plötzlich erwachte ich 
aus dem Schmerz, der mich erstarrte. Ich nahm kastend 
die Armbrust auf, die mir entglitten war, und eilte heim— 
wärts: noch einen Versuch wollte ich machen, noch einen letzten. 
Als ich spät in der Nacht das Schlafzimmer betrat, 
eegie sich Ursula in ihrem Bett. Ich hörte an ihrem Atem, 
daß sie wach war. Der Mond schien durch das Fenster. 
WMährend ich mich niederlegte, beugte ich mich über sie. 
Ihre schwarzen Augen glänzten in dem ungewissen Licht. 
„Arsula“, sagte ich flehentlich, „wenn du nicht mit mir 
gehen willst, so laß mich allein ziehen! ... Ich will euch 
nicht vergessen, ich werde für euch sorgen.“ „Wenn du fort- 
gehst“, antwortete sie tonlos flüsternd, „jagst du dich von 
nir und meinem Kinde los.“ „OArsulal“ rief ich schmerzlich. 
Da begann das Kind, unruhig zu werden. Sie strechkte die 
Hand aus dem Bett und schaubelte die Wiege leise hin 
und her. Aber sie sagte nichts mehr. 
Da wußte ich, daß alles Keden vergeblich sei, und mein 
Entschluß war gefaßt. 
Den nächsten Tag wandelte ich umher gleich einem 
Träumenden. Mein Körper war wie zerschlagen, aber mein 
Hien fieberte. Ich blieb den ganzen Tag im Wald. Als 
ch am Abend nach Hause kam, lag das Kind in tiefem 
Schlummer. Mir war ein schwerer Stein vom Herzen. 
Wenn es die hellen, unschuldigen Auglein aufgeschlagen 
»ätte ... ich wäre vielleicht im letzten Augenblick noch 
einmal unschlüssig geworden und hätfte alles noch einmal 
Kichard Weber 
Einem der treuesten Freunde, den diese Blätter während der 
janzen Seit ihres bisherigen Erscheinens gehabt haben, soll eine 
Betrachtung gewidmet sein, die einem Toten den Danb bringt, 
auf den der Lebende niemals Anspruch erhoben hätte, wiewohi 
ꝛx ihn immer und immer aufs neue verdiente. Seine einer tiefen 
Herzensgũte entspringende Bescheidenheit in hohen Ehren — an 
dieser Stelle ziemt sichs nicht, zu verschweigen, daß Richard 
Veber, den ein rätselvolles, der Mitwelt maßlos grausam 
ꝛescheinendes Schicksal am 21. Januar nach schwerer Krankheit aus 
Dlänen und Hoffnungen mitten herausriß und sterben ließ, uner⸗ 
jurchkämpfen müssen, aber es schlief. Es sollte alles gehen, 
vie ich es gewollt hatte. 
Einige Stunden nach Mitternacht stand ich auf. Der 
Nond schien so hell in das Schlafzimmer, daß ich alles 
eutlich unterscheiden bonnte. Ich mußte jedes Geräusch 
ermeiden, sonst erwachte Ursula, und ich wollte nicht mehr 
ber mein Fortgehen mit ihr sprechen. Ich wandte mich nach 
»r hin, um sicher zu sein, daß sie schlief. In diesem Augen- 
lick fühlte ich Leine Liebe, nur Bitterkeit im Herzen. Aber 
as Kind! Vorsichtig beugte ich mich über seine Wiege 
nd hörte seinen leisen Atem gehn. Ich empfand eine 
nendliche Zärtlichkeit und wußte mich im tiefsten Innern 
huldig. Aber ich riß mich doch los, schlich mich wie ein 
Rieb auf den Fußspitzen durch die Tür, die ich hatte offen 
ehen lassen, und ging kaum bebleidet die Treppe hinunter. 
kine Stufe knackte, und ich blieb stehen, um zu lauschen. 
Iber nichts regte sich im ganzen Haus. Am Fuße der 
reppe zog ich die Kleider und Schuhe an, die ich in der 
)and trug, steckte meine Reiterpistole zu mir und trat dann 
is Freie. Den Hunden flüsterte ich ein Wort zu. daß sie 
hwiegen. 
Auf dem Garten lag der volle WMondschein. Mit leisen 
zchritten eilte ich zwischen den Beeten hin bis zum Latten⸗ 
»rx. Schon hob ich die Hand, um es aufzuklinken, da blieb 
h abermals lauschend stehen. Hatte ich nicht einen Laut 
om Hause drüben gehört? War nicht ein Fenster geöffnet 
vorden?... Ich drehte jachte den Kopf und sah hinüber. 
Alle Fenster blinkten im Mondschein, nur eins war schwarz. 
sin der Umrahmung des Efeus stand eine hohe Gostalt. 
sch sah das weiße Hemd, das dunkle, herabhängende Haar und 
as helle Gesicht. Es war Ursulal Da verlor ich den Mut. 
Was sollte ich kun? 
Heiß stieg in mir die Erinnerung an die erste schöne 
eit wieder auf .... Wenn sie mich riefe!... Ein paar 
Augenblicke wünschte ich sehnlich, daß sie es tue. Sie 
iußte mir verzeihen, und alles sollte wieder neu werden. 
doch war es nicht zu spät! 
Ich wartete und sah hinüber.... aber sie blieb stumm! 
zie stand wie leblos und rief nicht! Sie mußte wissen, daß 
ur ich es sein bonnke, sie mußte doch wissen, was ich tun 
»ollte... und rief mich nicht zurückl Da erfaßte mich wilder 
zroll, und ich klinkte hart das Tor auf... Und dann 
artete ich noch einmal. „Das Geräusch wird sie auf- 
—R 
ind wird rufen“.... Aber alles blieb still. Da steckte ich 
am alter Gewohnheit die Hand durch das Gartentor, um 
men den Eisenhaken einzuhängen... Ich stand im Schatten 
ines dichten Baumes, und nur meine Hand jenseits der 
kür sah weiß und bleich aus... wie die Hand eines Toten. 
MWenn sie jetzt nicht ruft“, dachte ich, „liebt sie mich nicht 
nehr; dann hat sie mich verstoßen und verloren!“ 
And sie rief nicht! 
Da schlug ich ein bittres Lachen an und ging mit großen 
Schritten in die Nacht und in die Welt hinaus. Echluß jolgt.) 
8 
um Godächtnis. 
ittlich, als er eben die Höhe seines Lebens erklommen hatte, es 
iemt sich nicht, hier zu verschweigen, daß die „Heimat ˖Schollen“ 
von ihrer Entstehung an durch Richard Weber eine Förderung 
rfahren haben, wie sie freundschaftlicher, wie sie anhänglicher und 
uverlässiger nicht gedacht werden bann. 
Die geistige Tatkraft und das überragende Menschentum des 
ußerordentlichen Mannes, der weit ũber das Bereich der von ihm 
ejchaffenen und geleiteten Tageszeitung, der Kasseler Post“, hinaus 
1Kassel wirkte und im Kreise seines Berufs ein ungewöhnliches 
Ansehen, die Ehre eines rũckhaltlos anerkannten Führers genoß,
	        
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