Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

eimat · Schollen 
Blätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst 
Nr.5/ 190260 
Erscheinungsweise Nmal monatlich. Bezugspreis 1,20 Mb. im Vierteljahr. Frühere 
Jahrgänge können, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen-⸗Derlag nachbezogen werden 6. Jahrgang 
Die beste Hemmung 0 
Von Lotte Gubalke. 
Wancher siegt über sein Herz, mancher durch sein Herz. 
Man kann auch sagen, daß Menschen, die ihr eigenes Herz 
hesiegten, nun Verständnis für alle Wirrnisse der Welt haben 
und als einzige Waffe im Kampf die Liebe gebrauchen und 
deshalb siegen. — — Ich traf vor einigen Tagen mit einem 
alten Jugendfreund zusammen. Eine trübere Stimmung hatte 
elten über Berlin gelegen — der Nebel braute vom WMorgen 
bis zum Abend über dem Häusermeer und den Bäumen 
des Tiergartens. Die untergehende Sonne nur zeichnete 
breite blukrote Streifen an den Westhimmel. Der Freund 
gehörte zu jenen Menschen, die niemals die Unruhe ihres 
Blutes überwinden bLonnten. Er war baum achtzehnjährig 
der Schule entlaufen, zur See gegangen, hatte die Welt in 
aAllen Windrichtungen durchreist: zu Schiff, im Eilzug, zu 
Fuß. Es gab für ihn scheinbar keine Hemmungen. Wir 
hatten uns Jahrzehnte nicht gesehen, waren beide grau 
geworden, hatte sich auch mein Leben stets in einer festen, 
gut umfriedigten Sürgerlichkeit abgespielt, so hatte mich das 
Schicksal trotzdem gehörig gezaust und gebeutelt. Man bann 
dieselben tief gehenden Schichsale in vier Wänden erleben, 
vie auf der wild bewegten Wanderschaft durch alle vor— 
andenen Erdteile. Als wir das nach einer herzlichen 
Begrüßung festgestellt hatten, in den herbstlich bunten Tier 
garten hineingehend, erblangen wie mit einem Schlag alle 
Kirchenglocken Berlins. So schien es wenigstens, als ob 
wir alle miteinander vereint hörten. Mein Freund war 
beim ersten Glochenschlag stehen geblieben und hatte den Hut 
Wgenommen, den er sekundenlang vor das Gesicht hielt. 
Ich sah ihn erstaunt au. Als er sich wieder bededt hatte, 
»emerbte er die Aberraschung, die auf meinem Gesicht stand 
„Ja, siehst du, diese Angewohnheit, beim Läuten einer Glocke 
ꝛin bleines Gebet zu sprechen, Lonnte ich nicht ablegen, obgleich 
ch all den „anderen“ Göttern gedient habe, die man nicht 
ieben dem Alleinigen haben soll. — Wo ich auch war, es 
rieb mich dazu, das bleine Gebet zu sprechen, das uns Mutter 
nufgegeben hatte: „Herrgott, ich danke dir für alle deine Liebe 
ind Güte.“ ... Ich kbonnte vor stummer Ergriffenheit nicht 
intworten. „Weißt du noch — es war vor vielen Jahr— 
ehnten, wir brachten unsere Ferien gemeinsam bei meinen 
ßroßeltern zu? Wie spielten im Garten, eine Schar junger 
zinder, als die Glocke erklang — ich war der Einzige, der 
ie Hände faltete und hellen Spott erntete, auch du hattest 
icht den Mut, für mich einzustehen, nur Lene Finkbke stellte 
ich neben mich, schlang ihren Arm um meine Schulter und 
at: Lehre mich deinen Spruch.“ Lene Finke! Ich war viele 
jahre mit ihr an einem Ort gewosen, sie hatte den reichen 
Apotheber zum Goldenen Hirsch geheiratet; nach kurzem Glück 
var sie sehr elend geworden; ihr Mann trank und spielte und 
ernachlässigte sie um einer anderen willen — dann ist sie früher 
estorben, als es ihrer blühenden Schönheit bestimmt schien — 
in Sohn lebt von ihr — der Mann nahm ein böses Ende.“ 
Wir gingen einige Schritte schweigend weiter. Dann, 
agte der Freund: „Lene war und blieb meine einzige Liebe. 
Ich wurde jedesmal an sie erinnert, wenn eine Glocke erblang, 
in sie und das kleine Gebet, das in Widerspruch stand mit 
neinem zerrissenen Herzen. Ich liebte Lene, aber es war mir 
nicht möglich, dieser Liebe meine Sehnsucht nach der Weite 
um Opfer zu bringen — so wanderte ich ruhelos umher, ich 
veiß nicht, was stärker war: das Fernweh oder das Heimweh.“ 
„And so wurde Lene des Apothebers unglückliche Fräu“ 
— entfuhr es mir. „And nun lebt noch der Sohn — ein 
Junge, der aller Mühen wert wäre.“ 
J
	        
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