eimat · Schollen
Blätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst
Nr.5/ 190260
Erscheinungsweise Nmal monatlich. Bezugspreis 1,20 Mb. im Vierteljahr. Frühere
Jahrgänge können, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen-⸗Derlag nachbezogen werden 6. Jahrgang
Die beste Hemmung 0
Von Lotte Gubalke.
Wancher siegt über sein Herz, mancher durch sein Herz.
Man kann auch sagen, daß Menschen, die ihr eigenes Herz
hesiegten, nun Verständnis für alle Wirrnisse der Welt haben
und als einzige Waffe im Kampf die Liebe gebrauchen und
deshalb siegen. — — Ich traf vor einigen Tagen mit einem
alten Jugendfreund zusammen. Eine trübere Stimmung hatte
elten über Berlin gelegen — der Nebel braute vom WMorgen
bis zum Abend über dem Häusermeer und den Bäumen
des Tiergartens. Die untergehende Sonne nur zeichnete
breite blukrote Streifen an den Westhimmel. Der Freund
gehörte zu jenen Menschen, die niemals die Unruhe ihres
Blutes überwinden bLonnten. Er war baum achtzehnjährig
der Schule entlaufen, zur See gegangen, hatte die Welt in
aAllen Windrichtungen durchreist: zu Schiff, im Eilzug, zu
Fuß. Es gab für ihn scheinbar keine Hemmungen. Wir
hatten uns Jahrzehnte nicht gesehen, waren beide grau
geworden, hatte sich auch mein Leben stets in einer festen,
gut umfriedigten Sürgerlichkeit abgespielt, so hatte mich das
Schicksal trotzdem gehörig gezaust und gebeutelt. Man bann
dieselben tief gehenden Schichsale in vier Wänden erleben,
vie auf der wild bewegten Wanderschaft durch alle vor—
andenen Erdteile. Als wir das nach einer herzlichen
Begrüßung festgestellt hatten, in den herbstlich bunten Tier
garten hineingehend, erblangen wie mit einem Schlag alle
Kirchenglocken Berlins. So schien es wenigstens, als ob
wir alle miteinander vereint hörten. Mein Freund war
beim ersten Glochenschlag stehen geblieben und hatte den Hut
Wgenommen, den er sekundenlang vor das Gesicht hielt.
Ich sah ihn erstaunt au. Als er sich wieder bededt hatte,
»emerbte er die Aberraschung, die auf meinem Gesicht stand
„Ja, siehst du, diese Angewohnheit, beim Läuten einer Glocke
ꝛin bleines Gebet zu sprechen, Lonnte ich nicht ablegen, obgleich
ch all den „anderen“ Göttern gedient habe, die man nicht
ieben dem Alleinigen haben soll. — Wo ich auch war, es
rieb mich dazu, das bleine Gebet zu sprechen, das uns Mutter
nufgegeben hatte: „Herrgott, ich danke dir für alle deine Liebe
ind Güte.“ ... Ich kbonnte vor stummer Ergriffenheit nicht
intworten. „Weißt du noch — es war vor vielen Jahr—
ehnten, wir brachten unsere Ferien gemeinsam bei meinen
ßroßeltern zu? Wie spielten im Garten, eine Schar junger
zinder, als die Glocke erklang — ich war der Einzige, der
ie Hände faltete und hellen Spott erntete, auch du hattest
icht den Mut, für mich einzustehen, nur Lene Finkbke stellte
ich neben mich, schlang ihren Arm um meine Schulter und
at: Lehre mich deinen Spruch.“ Lene Finke! Ich war viele
jahre mit ihr an einem Ort gewosen, sie hatte den reichen
Apotheber zum Goldenen Hirsch geheiratet; nach kurzem Glück
var sie sehr elend geworden; ihr Mann trank und spielte und
ernachlässigte sie um einer anderen willen — dann ist sie früher
estorben, als es ihrer blühenden Schönheit bestimmt schien —
in Sohn lebt von ihr — der Mann nahm ein böses Ende.“
Wir gingen einige Schritte schweigend weiter. Dann,
agte der Freund: „Lene war und blieb meine einzige Liebe.
Ich wurde jedesmal an sie erinnert, wenn eine Glocke erblang,
in sie und das kleine Gebet, das in Widerspruch stand mit
neinem zerrissenen Herzen. Ich liebte Lene, aber es war mir
nicht möglich, dieser Liebe meine Sehnsucht nach der Weite
um Opfer zu bringen — so wanderte ich ruhelos umher, ich
veiß nicht, was stärker war: das Fernweh oder das Heimweh.“
„And so wurde Lene des Apothebers unglückliche Fräu“
— entfuhr es mir. „And nun lebt noch der Sohn — ein
Junge, der aller Mühen wert wäre.“
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