Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

m vollen Ornat. Ein weißer Sarg schob sich hervor, schwankte 
‚on vier Männern getragen die Treppe hinunter und drinnen 
ag — er sah es ganz deutlich, als wären die Wände nur 
graues Glas — lag in blonden offenen Haaren des Hauses 
— DD Mutter 
folgten nach und viele bekannte Bürger, und alles ging zwei 
Handbreit an Heinrich Neddermaier vorüber. Dabei hörte 
er doch nicht einen Laut der vielen Füße auf den Steinen. 
Er wußte nicht, wie lange er da gestanden. Als er 
wieder zu sich bam, lag die Straße bis zu den Haustüren 
rüben jchon in der hellen Sonne. Jule Joler war fsort. 
Heinrich Neddermaier ging langsam zu seiner Wohnung 
zurück. Ihm war alle Stimmung vergangen zu seiner 
Morgenwanderung. 
Um Punbt acht saß der Stadtschreiber wie immer an 
seinem Arbeitstisch im Rathaus. Da lag vor ihm auf 
einem Platz — wie bam bei seiner Ordnungsliebe nur dies 
Such auf den Tisch statt ins Kegal?! — ein großes, an 
den Ecken abgeschundenes Buch. Darauf stand in alter 
runstvoller Schreiberschrift: 
Spital zum Heiligen Geist. 
personalia. 
vangelisch, ledig, geb. am 22. Mai 1881 zu Huhleborn. 
zingetreten am 2. Juni 1806.“ — Dahinter kam ein leerer 
Zaum, wo bei all den andern schon ein schwarzes Kreuz 
tand und ein Datum. — 
Da klopfte es schüchtern, und herein stapfte der alte 
dörries, der Spitalsbote mit der roten Tröpfelnase und den 
winkernden Augen. Er begann mit knarrender Stimme, 
bie auswendig gelernt: „Guten Morgen, Heer Sebendarius. 
kue Herrn Sebendarius kund und zu wissen: heute Morgen 
Alhr sieben Minuten ist die Spitalsinsassin Jule Joler am 
zchlage gestorben. Gott sei der armen Seele gnädig!“ 
Heinrich Neddermaier starrte in eine Ecke. 
„Ja, ja“ sagte der alte Dörries, und als noch immer 
chts verlautete, sagte er nur: „Guten Worgen, Herr 
ʒebendarius,“ und schob sich wieder aus der Tür. 
Von diesem Tage an sah man den einst so lebensfrohen 
tadtschreiber wenig lachen. Nach drei Wochen ging er mit 
n Anneliesens Leichengefolge. 
Mancher, der dem Stadtschreiber nachschaute, hat später 
eobachtet, wie er plötzlich auf der Straße stehen blieb wie 
jebannt. Vorübergehende wollen dann einen ganz entjsetzten 
Ausdruck in seinen dunklen Augen gesehen haben. Er selber 
at nie davon gesprochen, und doch munkelten die Leute im 
ʒtãädtchen bald: „Der Stadtschreiber hat Jule Jolers Erbe 
ingetreten. Er hat das zweite Gesicht!“ 
Hedankenlos schlug er es auf. NAus der langen schwarzen 
Namenreibhe sprang ihm einer in die Augen: „Jule Joler, 
A i 
us alter Seit. 
Die aallische Kriegsfackel im Stifte 
zu Hersfeld. 
Historische Stizze aus dem Siebenjährigen Kriege. 
Oon Georg Klinb. 
Wie aus Holz geschnitzt sitzen die alten weißbärtigen Rats 
herren und Vorsteher der Zünste in ihren hochlehnigen Stũhlen. 
Trüũbes Licht eines schneeverhangenen Februartages scheint durch 
ie Fenster des getäselten Rathaussjaales zu Hersseld. Von draußen 
ont sautes briegerijches Rufen und Lärmen zu den Stadtvätern 
ind mischt sich mit der Stimme des ersten Sũrgermeisters, Johann 
Seorg Allmerod, der soeben spricht: ... Und so haben denn 
die Franzosen seit einem halben Jahre wiederum das Hessenland 
esehßt, zum viertenmal in diesem Kriege. AUnser gnadiger Herr 
Landgraf Friedrich, den Gott segnen möge. mußte seine Residenz 
berlahen und in Braunschweig Suflucht suchen. Wiederum haben 
die Feinde eine Kontribution gefordert von einer Million Taler; 
riegsfuhren aller Art bedrũcken die Einwohner. ODiele sind des 
halb mit ihrem Vieh in die Wälder geflüchtet und halten sich dort 
erborgen. Die Läandleute blagen, daß beim Fouragieren keine 
Kücksicht darauf genommen wird, ob ihnen das zum Anterhalt des 
eigenen Viehes Nötige verbleibt, ja, es wird lhnen nicht einmal 
Zzeit gelassen, das Korn auszudreschen. Großer Mangel an Saat- 
ind Brotfrucht ist eingetreten, weite Felder sind unbestellt geblieben. 
kine Verordnung des französischen Gewalthabers folgt der anderen. 
Dor wenigen Wochen erst ist durch Marschall Sroglie der Befehl 
ergangen, sämtliche Waffen und Ausrũstungsgegenstãnde, die den 
hessijchen Truppen gehören, bei Todesstrafe duszuliesern. Die⸗ 
enigen, die dieser Verordnung entgegenhandeln, und bei denen 
man Wajßfen findet, sollen sofort gehaͤngt werden. Wahrlich, schwer 
muß das Hesjenland die Treue gegen seinen VOerbũndeten. den 
großen König von Preußen, bezahlen!“ 
Der Büuͤrgermeister macht eine Pause. Einen Augenblick 
horcht er auf das Kufen und Schreien, das von draußen herein⸗ 
dringt, und jährt aufseufzend fort: „Unsere Stadt und ihre Um— 
gebung zeigen das Bild eines Kriegslagers. Die Straßen sind 
it Soldaten gefüllt, Wachen und muitärische Geschäftsstellen ein· 
Jerichtet. Das Gymnasium ijst in ein Lazarett umgewandelt 
dorden, alle Vorrate sind gesperrt. Sogar das Gotteshaus hat 
der Feind nicht respektiert. Die ehrwurdige Stiftsbirche, eine 
Zierde unserer Stadt, ist zu einem Fouragemagazin und Kriegs- 
ager gemacht worden. Alles Bitten bei dem jranzösijchen Kom⸗ 
mandanften war vergebens“ 
Aufatmend beendet das Oberhaupt der Stadt seinen Bericht 
in die Katsversammelten und läßt sich schwer in den geschnitzten 
Zesel nieder. Die Maänner rings um den langen Tijch blicken 
chweigend und finster vor sich hin, als hätte ihnen die Schilde⸗ 
ung Hhres Sürgermeisters von der Notlage des Landes und der 
Siadt das Herz noch schwerer gemacht. Georg Allmerod läßt die 
zoh jeines Alters noch scharfen Augen über die Versammelten 
hweifen und wendet sich dann an den Stadtschreiber, der neben 
mm sitzt, mit der Frage: „Hat sich Herr Georg Klappert ent— 
huldigen lasjen?“ Venn der Sessel des zweiten Bũerdermeisters 
tnoch immer leer. 
Gieichjam als Antwort auf die Frage wird in diesem Augen- 
lick die Tür des Sitzungssaales geöffnet und mit hochgeschlagenem 
Rantelbragen erscheint die stattsiche Gestalt des zweiten Suͤrger⸗ 
neisters, das Gesicht von der Kälte des Februartages leicht gerõtet. 
zr reicht dem Kaisdiener Hut und Mantel, dann nimmt er,— sich 
eicht vor den Versammelten verneigend, in jeinem Soessel Platz. 
Ich wurde bei einem Gange durch die Stadt aufgehalten und 
itte mein verjpãtetes Kommen zu entschuldigen“, wendet er sich 
in Georg Allmmerod, und nachdem ihm dieser freundschaftlich zu⸗ 
enickt, spricht er mit wohllautender Stimme zu den Oersammelten: 
Es wird einem geneigten Rat von Interesse jsein zu hören, daß 
er Feind vor den Toren allerhand Befestigungswerbe errichtet. 
z5o habe ich eben gesehen, daß vor dem Frauentor Schanzen auf⸗ 
eworfen und Palisaden erbaut werden. Der Wasserlauf ist da⸗ 
urch verstopft und der Weg hinter dem Stift mit Wasser und 
fis angefñilt. Das Holz zu den Palisaden, über dreihundert 
fichenheister, haben die Soldaten ohne weiteres im Walde ab⸗ 
ehauen. Aber“, jpricht er mit erhobener Stimme weiter, „jo Gott 
bill, sind die Tage der Bedrũckung bald zu Endel“ 
Mit gejspannten Gesichtern sitzen jetzt die Katsmänner und 
licken auf den Sprecher, der mit triumphierender Stimme und 
lißenden Augen fortfährt: „Herzog Ferdinand von SBraunschweig 
ahti Aus dem Hauptquartier Sierenberg hat er eine Bebannt⸗ 
nachung erlahjen, daß er mit der allüerten Armee zur Befreiung 
es Hejfjenlandes heranrũcke.“ 
Inꝰ hochster Erregung sind die Manner aufgesprungen und 
rãngen sich um den Sprecher, der unterdessen ein Papier aus 
AInem Wams gezogen hat und mit lauter Stimme vorliest: 
„Wir Ferdinand von Gottes Gnaden Herzog von Braun⸗ 
chweig und Lũneburg .. tun bund und fügen hiermit zu 
pissen, daß wir den Entschluß gefaßt, die unter dem Sedruck des 
feindes Landgraͤflich⸗Hessen-Casjeljchen Lande zu befreien ... 
uch ims der Baupteund Kesidenzstadt Cassel genähert haben .
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.