Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

.Du sollst Gott nicht versuchen!“ 
Seinah ärgerlich blappte er das Buch zu, schob es 
weit von sich und stand auf. NAuf den Fußspitzen schlich er 
ans Bett, stand da ein Weilchen und sah auf die Kinder 
nieder. — Plötzlich legte er die Hand auf die Schulter 
seiner Frau: „Marilies, vielläicht wär'sch doch bässer, wann 
ich e'mol zum Dobter ging.“ Sie sah ihn groß und staunend 
an: „Wenn du willst, dann geh,“ sagte sie. 
Kasch zog er sich an, warf noch einen besorgten Blick 
nach dem Bett und ging. Mit Tagesgrauen bam er wieder 
zurück. Drei rot bezettelte Arzneiflaschen packte er aus, 
und Marilies wunderte sich, weil es drei waren. Wiesen- 
daniel hob die Schulter, machte ein bedenbliches Gesicht 
und sagte: „Drei Kinder, drei Kezepte, drei Flaschen — 
der Dobtor hat das so gemacht.“ 
Marilies hatte nun die Arznei, von der sie Hilfe er⸗ 
hoffte. Sie war aber sehr unglücklich darüber, daß die 
Kinder diese nicht hinunterbrachten, weil sie nicht schlucken 
konnten, und gab sich alle Mühe, sie ihnen beizubringen, 
aber die Kinder wehrten ab und nahmen sie nicht. Wiesen- 
daniel saß am Tisch und hatte das Gebetbuch wieder vor 
—E 
wenn der liebe Gott nicht half, war alles andere umsonst. Er 
schütktelte den Kopf, wenn er sah, wie sich seine Frau um die 
Kinder mühte, ihnen die Arznei beizubringen versuchte. Am 
Abend war es nicht besser, es war schlimmer geworden. 
Wenn wir den Dobtor einmal da hätten, dachte Marilies, 
und da sprach sie den Gedanken auch schon aus „Den 
ODobtor müssen wir holen, Daniel, ehe es zu spät ist.“ 
„MWas soll der Doktor?“ brummte er, „du hast ja 
jeine Arznei.“ 
„Du bist herzlos!“ schrie sie ihn an, „liebst deine Kinder 
nicht, jonst würdest du nicht so reden!“ 
Er schnellte in die Höhe: .Das lügst dul — du hast 
ein Gottpertrauenl“ 
„Und du versuchst Gott! Tust deine Pflicht nicht!“ 
rief Marilies und drehte ihm den Rücken. 
Dicke, schlechte Luft füllte die bleine Stube, und die 
qualmende Petroleumlampe, die Daniel neben seinem Gebet⸗ 
buch stehen hatte, machte die Luft noch schlechter. Marilies 
bat ihn, die Lampe etwas bleiner zu drehen, er tat es. 
Doch als sie das Fenster ein wenig aufmachen wollte, wurde 
er fast zornig: „Daß sie Sug kriegen! — Überhaupt glaube 
ich, daß es Erkältung ist! — Laß das Fenster lieber zu.“ 
„Frische Luft wird nichts schaden,“ sagte Marilies und 
öffnete das Fenster ein bißchen, „seit zwei Tagen ist kbein 
Fenster aufgewesen.“ 
Er stützte den Kopf in beide Hände, sah auf sjein Buch, 
brummelte etwas von Sug und Erkältung und drückte die 
Daumen hinter die Ohren, weil er das Stöhnen der Kinder 
nicht hören konnte. So saß er eine Weile, dann sprang 
er auf. „Es zieht,“ sprach er und schob das Fenster wieder 
zu. Müde schritt er durch die Stube, die vergangene Nacht 
lag ihm in den Gliedern — seine Füße waren schwer wie 
Slei. And er dachte wohl auch an sich, als er gähnend 
sagte: „Wenn nur die Kinder ein bißchen Ruhe hätten 
und schlafen bönnten.“ 
„Kuhe — schlafen —,“ sagte Marxilies „sieh nur, wie sie 
sich abarbeiten — sieh den Gustabl“ 
Er gähnte. „Des Herrn Wille geschehe,“ sagte er und 
etzte sich wieder an den Tisch. 
Schläfrig legte er den Kopf auf die Tischplatte, doch 
schlafen wollte er nicht, nur ein wenig auflegen und die 
Augen für burze Seit zumachen, weil sie jo brannten. An 
seine Kinder wollte er denken und für sie befen. Er kbam 
ucht zum Denben und nicht zum Beten, gleich war der 
5chlaf über ihm. And der Schlaf brachte Träume, zuerst 
eichte, luftige, bunt wie Schmetterlinge, die schnell Lamen 
ind gingen. Doch dann war der buntke Sauber wie mit 
inem Schlage verschwunden. Etwas Düsteres war zur 
kür herein geschlichen und kroch dem Wiesendaniel am 
Rücken hinauf; schwer, als obs ein Maltersack sei, saß es 
hm dann im Nacken fest. 
Wiesendaniel atmete schwer — Schweißtropfen näßten 
eine Stirne — o diese Lastl — Wie mit Krallen hielt 
2s sich — abschütteln, dachte er. er war ja hell wach, hatte 
s zur Türe hereinkommen sehen. Er wollte aufstehen 
ind bonnte nicht. Es hielt ihn an der Schulter, und dann 
chüttelte es ihn. Er mußte sich wehren. mit beiden Händen 
chlug er um sich. 
„Daniel, Daniel!“ 
Das war ja die Stimme seiner Frau. 
„Der Gustav stirbt!“ 
Im Nu hatte Wiesendaniel die Augen weit offen und 
tarrte nach dem Bett. Er griff nach seinem schmerzenden 
stacken, als wolle er da etwas fassen. — Der Tod — 
atte ihm nicht eben der Tod im Nacken gesesjen? — And 
etzt griff der Würger nach seinem Gustavpl — Da war 
Viesendaniel schon am Bett, nahm schnell seinen Gustav 
uuf die Arme und lief mit ihm durch die Stube, als ob er 
hn so dem Tod entreißen bönne. Und Marilies lief hinterher. 
„Gustav, Gustavl“ 
Swoeimal hatte er ihn durch die Stube getragen, dann 
egte er ihn wieder aufs Bett. 
„Er stirbt noch nicht Marilies,“ sagte er. 
„Den Dobtor mußt du holen!“ 
Er sah seine Frau groß an, er wollte schon wieder 
agen — was soll der Doktor — doch Marilies faßte ihn 
im Arm und schrie: „Gleich, gleich mußt du ihn holen! 
Unsere Pflicht müssen wir tunl“ 
„Pflicht,“ murmelte er und sah sich unsicher um. — Seine 
frau hatte da wohl recht. Der Dobtor mußte herbei. — 
Er griff die Mütze vom Nagel und nahm den Krückstock 
ius der Ecke. Es bam eine große Angst über ihn, die 
hn schnell zur Türe hinausdrängte, die ihn die Beine 
chnell aufheben ließ. Und Angst war hinter ihm, auf dem 
Veg durch den nächtlichen Wald — Angst —. Oder 
bar der Tod hinter ihm her? — Er spürte wieder den 
ODruck im Nacken, glaubte Schritte hinter sich zu hören und 
ief schneller. — 
Der Tod — dicht hinter ihm war er. — Wie ein ge— 
etztes Wild floh Wiesendaniel durch den weiten Wald der 
5tadt zu. Einmal wagte er es, einen Augenblick still zu 
halten, um ängstlich zurück zu horchen. — Er hörte nichts 
ils jeinen hämmernden Herzschlag. Und die Angst trieb 
hn wieder weiter, er lief. — Ja, es war doch der Tod 
inter ihm her, aber er mußte ihm etwas abiagen. darum 
ꝛilte er so. — 
Fünf Ahr schlugs vom Kirchturm, als er in Biedenkopf 
inkam. And er war froh, daß im Dobtorhause schon Licht 
var. Das Hoftor stand weit offen, und der RKutscher 
chirrte eben die Pferde an. Das paßte ja gut, da bonnte 
her Dobtor gleich mitfahren. And er fragte den Kutscher. 
»b der Dobtor zu Hause sei. 
„Langt gerade noch,“ sagte der, „wir wollen fort.“ 
Er wird etwas Wichtiges vorhaben, dachte Wiesen⸗ 
aniel und ging schnell nach der Haustüre. Er war nicht 
venig erschrocken, als ihm im Hausflur der Dobtor mit 
umgehängter Jagdflinte und zwei Hunden entgegentrat. 
„Was wollen Sie?“ Das klang nicht freundlich.
	        
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