.Du sollst Gott nicht versuchen!“
Seinah ärgerlich blappte er das Buch zu, schob es
weit von sich und stand auf. NAuf den Fußspitzen schlich er
ans Bett, stand da ein Weilchen und sah auf die Kinder
nieder. — Plötzlich legte er die Hand auf die Schulter
seiner Frau: „Marilies, vielläicht wär'sch doch bässer, wann
ich e'mol zum Dobter ging.“ Sie sah ihn groß und staunend
an: „Wenn du willst, dann geh,“ sagte sie.
Kasch zog er sich an, warf noch einen besorgten Blick
nach dem Bett und ging. Mit Tagesgrauen bam er wieder
zurück. Drei rot bezettelte Arzneiflaschen packte er aus,
und Marilies wunderte sich, weil es drei waren. Wiesen-
daniel hob die Schulter, machte ein bedenbliches Gesicht
und sagte: „Drei Kinder, drei Kezepte, drei Flaschen —
der Dobtor hat das so gemacht.“
Marilies hatte nun die Arznei, von der sie Hilfe er⸗
hoffte. Sie war aber sehr unglücklich darüber, daß die
Kinder diese nicht hinunterbrachten, weil sie nicht schlucken
konnten, und gab sich alle Mühe, sie ihnen beizubringen,
aber die Kinder wehrten ab und nahmen sie nicht. Wiesen-
daniel saß am Tisch und hatte das Gebetbuch wieder vor
—E
wenn der liebe Gott nicht half, war alles andere umsonst. Er
schütktelte den Kopf, wenn er sah, wie sich seine Frau um die
Kinder mühte, ihnen die Arznei beizubringen versuchte. Am
Abend war es nicht besser, es war schlimmer geworden.
Wenn wir den Dobtor einmal da hätten, dachte Marilies,
und da sprach sie den Gedanken auch schon aus „Den
ODobtor müssen wir holen, Daniel, ehe es zu spät ist.“
„MWas soll der Doktor?“ brummte er, „du hast ja
jeine Arznei.“
„Du bist herzlos!“ schrie sie ihn an, „liebst deine Kinder
nicht, jonst würdest du nicht so reden!“
Er schnellte in die Höhe: .Das lügst dul — du hast
ein Gottpertrauenl“
„Und du versuchst Gott! Tust deine Pflicht nicht!“
rief Marilies und drehte ihm den Rücken.
Dicke, schlechte Luft füllte die bleine Stube, und die
qualmende Petroleumlampe, die Daniel neben seinem Gebet⸗
buch stehen hatte, machte die Luft noch schlechter. Marilies
bat ihn, die Lampe etwas bleiner zu drehen, er tat es.
Doch als sie das Fenster ein wenig aufmachen wollte, wurde
er fast zornig: „Daß sie Sug kriegen! — Überhaupt glaube
ich, daß es Erkältung ist! — Laß das Fenster lieber zu.“
„Frische Luft wird nichts schaden,“ sagte Marilies und
öffnete das Fenster ein bißchen, „seit zwei Tagen ist kbein
Fenster aufgewesen.“
Er stützte den Kopf in beide Hände, sah auf sjein Buch,
brummelte etwas von Sug und Erkältung und drückte die
Daumen hinter die Ohren, weil er das Stöhnen der Kinder
nicht hören konnte. So saß er eine Weile, dann sprang
er auf. „Es zieht,“ sprach er und schob das Fenster wieder
zu. Müde schritt er durch die Stube, die vergangene Nacht
lag ihm in den Gliedern — seine Füße waren schwer wie
Slei. And er dachte wohl auch an sich, als er gähnend
sagte: „Wenn nur die Kinder ein bißchen Ruhe hätten
und schlafen bönnten.“
„Kuhe — schlafen —,“ sagte Marxilies „sieh nur, wie sie
sich abarbeiten — sieh den Gustabl“
Er gähnte. „Des Herrn Wille geschehe,“ sagte er und
etzte sich wieder an den Tisch.
Schläfrig legte er den Kopf auf die Tischplatte, doch
schlafen wollte er nicht, nur ein wenig auflegen und die
Augen für burze Seit zumachen, weil sie jo brannten. An
seine Kinder wollte er denken und für sie befen. Er kbam
ucht zum Denben und nicht zum Beten, gleich war der
5chlaf über ihm. And der Schlaf brachte Träume, zuerst
eichte, luftige, bunt wie Schmetterlinge, die schnell Lamen
ind gingen. Doch dann war der buntke Sauber wie mit
inem Schlage verschwunden. Etwas Düsteres war zur
kür herein geschlichen und kroch dem Wiesendaniel am
Rücken hinauf; schwer, als obs ein Maltersack sei, saß es
hm dann im Nacken fest.
Wiesendaniel atmete schwer — Schweißtropfen näßten
eine Stirne — o diese Lastl — Wie mit Krallen hielt
2s sich — abschütteln, dachte er. er war ja hell wach, hatte
s zur Türe hereinkommen sehen. Er wollte aufstehen
ind bonnte nicht. Es hielt ihn an der Schulter, und dann
chüttelte es ihn. Er mußte sich wehren. mit beiden Händen
chlug er um sich.
„Daniel, Daniel!“
Das war ja die Stimme seiner Frau.
„Der Gustav stirbt!“
Im Nu hatte Wiesendaniel die Augen weit offen und
tarrte nach dem Bett. Er griff nach seinem schmerzenden
stacken, als wolle er da etwas fassen. — Der Tod —
atte ihm nicht eben der Tod im Nacken gesesjen? — And
etzt griff der Würger nach seinem Gustavpl — Da war
Viesendaniel schon am Bett, nahm schnell seinen Gustav
uuf die Arme und lief mit ihm durch die Stube, als ob er
hn so dem Tod entreißen bönne. Und Marilies lief hinterher.
„Gustav, Gustavl“
Swoeimal hatte er ihn durch die Stube getragen, dann
egte er ihn wieder aufs Bett.
„Er stirbt noch nicht Marilies,“ sagte er.
„Den Dobtor mußt du holen!“
Er sah seine Frau groß an, er wollte schon wieder
agen — was soll der Doktor — doch Marilies faßte ihn
im Arm und schrie: „Gleich, gleich mußt du ihn holen!
Unsere Pflicht müssen wir tunl“
„Pflicht,“ murmelte er und sah sich unsicher um. — Seine
frau hatte da wohl recht. Der Dobtor mußte herbei. —
Er griff die Mütze vom Nagel und nahm den Krückstock
ius der Ecke. Es bam eine große Angst über ihn, die
hn schnell zur Türe hinausdrängte, die ihn die Beine
chnell aufheben ließ. Und Angst war hinter ihm, auf dem
Veg durch den nächtlichen Wald — Angst —. Oder
bar der Tod hinter ihm her? — Er spürte wieder den
ODruck im Nacken, glaubte Schritte hinter sich zu hören und
ief schneller. —
Der Tod — dicht hinter ihm war er. — Wie ein ge—
etztes Wild floh Wiesendaniel durch den weiten Wald der
5tadt zu. Einmal wagte er es, einen Augenblick still zu
halten, um ängstlich zurück zu horchen. — Er hörte nichts
ils jeinen hämmernden Herzschlag. Und die Angst trieb
hn wieder weiter, er lief. — Ja, es war doch der Tod
inter ihm her, aber er mußte ihm etwas abiagen. darum
ꝛilte er so. —
Fünf Ahr schlugs vom Kirchturm, als er in Biedenkopf
inkam. And er war froh, daß im Dobtorhause schon Licht
var. Das Hoftor stand weit offen, und der RKutscher
chirrte eben die Pferde an. Das paßte ja gut, da bonnte
her Dobtor gleich mitfahren. And er fragte den Kutscher.
»b der Dobtor zu Hause sei.
„Langt gerade noch,“ sagte der, „wir wollen fort.“
Er wird etwas Wichtiges vorhaben, dachte Wiesen⸗
aniel und ging schnell nach der Haustüre. Er war nicht
venig erschrocken, als ihm im Hausflur der Dobtor mit
umgehängter Jagdflinte und zwei Hunden entgegentrat.
„Was wollen Sie?“ Das klang nicht freundlich.