Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

drehte sich nach ihr um, nahm die Mütze vom Kopf und 
sagte: „Es blöpt schon wieder.“ 
Mit gefalteten Händen standen beide da. Wem es 
galt, wußten sie nicht — aber ein Kind war weniger 
im Dorf. 5— J 
„Wir hätten die Kinder nicht gehen lassen sollen,“ 
sagte die Frau. 
Wiesendaniel stülpte die Mütze auf den Kopf: „Warum 
nicht?“ 
„In Steinackers liegt ein totes und ein Lrankes Kind. — 
Sag, Daniel, heißt das nicht Gott versuchen?“ 
Er starrte seine Frau an: „Gott versuchen —“ murmelte 
er, und dann sagte er laut: „Nein, Gott vertrauen heißt 
das! Die Kinder sind in Gottes Handl!“ 
„Aber Daniel, war es denn so unbedingt nötig, daß 
sie in Steinackers gingen?“ 
„Marilies,“ sagte Wiesendaniel „sie sind früher dorthin 
gegangen, weshalb sollen sie heute nicht hingehen?“ 
Marilies schwieg. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl, 
wurde aber die Sorge nicht los. Und als die Kinder 
lange ausblieben, machte sie sich Vorwürfe. Sie hätte sie 
doch nicht gehen lassen sollen, und wenn auch ihr Mann es 
wollte, denn es war so — Gott versucht —— 
Heiter, wie sie gegangen waren, kamen die Kinder 
wieder und erzählten von vielen Blumen und Kränzen, die 
Steinackers Mariechen bekommen habe. Der kbleine, zwei⸗ 
einhalbjährige Gustav wollte sich gar nicht beruhigen, Blumen 
und Kränze wollte er wie Steinackers Mariechen. 
Marilies war blaß geworden und fuhr mit der Schürze 
nach den Augen. Wiesendaniel rief seinen Gustav zu sich 
ind steich zärtlich besorgt über dessen helles Lockenhaar. 
Slumen und Kränze, verlangte der Kleine in kindlichem 
Hestammel. 
„Blumen und Kränze —“ wiederholte Wiesendaniel 
tief ernst, „aber Gustav, Steinackers Mariechen ist doch 
gestorben —.“ 
Da wollte der Kleine auch sterben — mit weinerlicher 
Stimme brachte er es heraus. Wiesendaniel holte tief 
Atem. Er sah, wie seine Frau wieder mit der Hand nach 
den Augen tastete, und es bam etwas Grolliges über ihn. 
„Marilies!“ sagte er streng, zurechtweisend, um dann 
aber gleich wieder mit seinen Kindern zu plaudern, suchte 
er sie doch auf andere Gedanken zu bringen, doch es gelang 
ihm nicht, sie von dem abzubringen, was sie gesehen hatten. 
AUnd als Gustav immer wieder Blumen und Kränze ver— 
langte — sterben wollte — brachen Marilies die hellen 
Tränen aus den NAugen. 
„Gottvertrauen,“ sagte Wiesendaniel, aber nicht mehr 
jo streng, ihm war selber weh zu Mute, doch er wollte es 
sich nicht anmerken lassen. — 
Ein trüber Wintermorgen folgte diesem Tag. Wie mit 
nassen, balten Tüchern blatschte der Wind gegen die Fenster. 
Bei Wiesendaniels war die Haustüre schon frühe auf, aber 
es bam niemand in den Hof, auch von den Kindern ließ 
sich keins sehen. 
Mit mißtrauischen Augen guckte der Nachbar Stoffel 
durch die Fensterscheiben, und als sich so nach neun Ahr 
Marilies auf der Haustreppe zeigte, riß er das Fenster 
schnell auf. 
„Was ist denn bei euch los?“ 
„Die Kinder!“ rief Marilies zurück, und ohne sich weiter 
mit ihm einzulassen, eilte sie ins Haus. 
Mit einem lauten Krachen flog Stoffels Fenster zu. Nun 
hatte er es ja, der da drüben, der in seinem Aberglauben 
nicht an Ansteckung hatte glauben wollen. Nun war es 
auch im Hinterdorf, und bein andrer als der Wiesendaniel 
war schuld. 
In dem großen, breiten Familienbett lagen Wiesendaniels 
Kinder, alle drei nebeneinander. 
„Gottes Schickung,“ sagte Wiesendaniel und nahm das 
Starbsbuch vom Eckbrettchen. Als Marilies zu ihm trat 
und fragte, ob er nicht einmal zum Dobtor gehen wolle, 
h»egehrte er auf: „Was soll der Dobtor? — Hier der muß 
helfen — Gott!“ 
Den ganzen Tag saß er hinter seinem Gebekbuch, kat 
zaum das NMtigste in Haus und Hof, und am Mbend saß 
ꝛxr noch. Er hatte fast das ganze Buch durchgelesjen, wählte 
mmer die schönsten und kräftigsten Gebete, und sah oft nach 
dem Bett, als warte er auf etwas. Wenn er aber die 
raurigen Augen seiner Frau sah und das Klagen der 
Kinder hörte, las er schnell das Gebet noch einmal, oder 
»r suchte nach einem anderen, von dem er bessere Hilfe erhoffte. 
AUnd wieder ging Marilies auf ihn zu — es störte ihn 
aum. Einen Augenblick stand sie vor ihm, sah, wie er 
zifrig betend die Lippen bewegte, dann sagte sie: „Du 
olltest zum Doktor gehen, Daniel, denn wenn man eine 
Arznei hätte, Lönnte man den Kindern doch etwas Linde— 
ꝛung verschaffen“ 
Er sah kaum auf von seinem Buch, ein unwilliges Knurren 
zam über seine Lippen: „Arznei —? Gott ist die beste 
Arznei — und gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen.“ 
„Du, du! — Wie kannst du nur so gleichgültig zusehen, 
venn deine Kinder so leiden?!“ Mit glasharten Augen 
olickte sie ihn an und schrie: „Gott hast du versuchtl!! — 
Und nun willst du ihn zum zweiten Mal versuchen, willst 
nicht zum Doktor gehenl — Wer hat denn aber dem Dobktor 
das Wissen und die Mittel gegeben? — Doch nur Gott! — 
Und Gott will, daß wir uns ihrer bedienen sollen! Doch 
venn wir uns ihrer nicht bedienen, dann heißt das: Gott 
berjuchen!“ 
Wiesendaniel war nahe daran, wieder aufzulodern — 
Hott versuchen! — Er warf einen scheuen Blick nach dem 
»reiten Bett in der Hinterstube — dort stand seine Frau 
chon wieder, die noch eben die fürchterliche Anklage gegen 
hn erhoben hatte. Schnell wandte er die Augen wieder 
1b und starrte auf sein Buch — beten, beten wollte er. — 
Er brachte aber die Augen nicht von einer Stelle fort, sah 
die großen fettgedruckten Buchstaben an. bis ihm die Augen 
veh taten — Gott versuchen! — 
Es klang ihm in den Ohren, stand es nicht auch da 
in dem Buch — und was war es, daß er die Augen nicht 
»on der Stelle brachte? — Größer und mächtiger wurden 
die Buchstaben vor ihm, wuchsen zu großen Gebilden, be— 
famen grüne, rote und blaue Känder, fingen an in allen 
Farben zu schillern. — And dann war es, als ob plötlich 
Bewegung unter sie KLomme, — einer sprang auf, und da 
ioch einer, drei, vier, eine ganze Menge. Wie übermütige 
Tobolde tanzten sie über das vergilbte Papier und fielen 
zann zappelnd darauf nieder. Als ob sie bämpfen wollten, 
eder um seinen richtigen Platz, hob nun ein Rutschen und 
S—chieben an, bald hierhin, bald dorthin, bis sie so groß 
ind schwer geworden waren, daß sie sich nicht mehr rühren 
sonnten. Und dann lagen sie steif und still und schrien den 
Viesendaniel an: 
„Du sollst Gott nicht verjuchen!“ 
Er machte eine rasche Handbewegung, schlug ein Blatt 
im, und als er da einen Augenblick hinsah, flogen ihm die 
zgleichen Worte entgegen. Aufgeregt blätterte er weiter, 
durchs ganze Buch, aber es war, als ob die Worte ihn 
erfolgten. überall flogen sie ihm entgegen: 
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