Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

„eimat· Scholien 
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst 
— 1/ 1927 
Zrscheinungsweise 2mal monatlich. Bezugspreis 1,20 RWM. im ODierteljahr. Frũhere 
Jahrgänge können, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen- Verlag nachbezogen werden 
—— 
Die Klöpglocke õ Von Heinrich Lauber. 
Einige sagten, der Wind habe es mitgebracht. Andere 
schoben es der alten Krämerin zu, die mit ihrem Hausierer- 
kLorb fast jede Woche ins Dorf Kam und von Haus zu Haus 
schnurrte; denn grade bei Altmanns im Vorderdorf, wo 
sie immer stundenlang am Ofen saß und sich die Füße wärmte, 
hatte es angefangen. — Altmanns einziges Töchterlein 
war gestorben. 
Richt zufrieden damit ging der Würgengel weiter, wie 
zin Schatten schlich er in die Häuser und wo eer eintrat, ver- 
tummte das Kinderlachen. Wie in guter Laune ging er 
hier und da an einem Hause vorüber, um dafür im nächsten 
doppelte Ernte zu halten. Der alte Schreinerjabob hatte 
biel zu kun, so viele Kindersärge wie in diesem Winter hatte 
er sein Lebtag noch nicht gemacht. Täglich warf die Klöp- 
glocke ihre Klagetöne über das Dorf, und dem alten Orts- 
diener wurde das andauernde Läuten recht schwer, aber 
er beblagte sich nicht. 
Es seĩ ansteckend, sagte der Lehrer, man müsse sich in 
icht nehmen. Die Schule wurde geschlossen. Und Stoffels 
Philipp sagte zu seinem Nachbar, dem Wiesendaniel: „Wenn 
wir diesen Wind behalten, Lommt's nicht zu uns ins Hinter- 
dorf, der Westwind treibt alles nach vorn.“ 
Wiesendaniel glaubte nicht an Wind und auch nicht an 
Ansteckung, er fuhr den Stoffel entrüstet an: „Du met 
äi'm Wendl“ 
Ob ihm das denn noch nicht aufgejallen sei, eiferte 
Stoffel dagegen, und das große Sterben im Vorderdorf 
iege nur an dem Westwind. 
„Das hat mit dem Wind nichts zu tun, Stoffell — 
Meinst du, du könntest dem Tod aus dem Wege gehen? — 
Ven es treffen soll. den krifft's!“ 
Dabei blieb Wiesendaniel und ließ sich durch niemand 
avon abbringen, auch nicht durch seine Frau. Er hatte nichts 
agegen, als seine Kinder am Nachmittag ins Dorf gehen 
vollfen, um einer toten Freundin einen Kranz zu bringen. Alle 
reĩ ließ er sie gehen. Und zu seiner Frau, die den Kindern 
esorgt nachblickte, sagte er: „Es ist Unsinn mit eurer Angst — 
Inglauben, Sünde, denn wo bleibt euer Gottvertrauen?“ 
„Aber ansteckend ist es doch,“ entgegnete seine Frau, 
sieh, wie es von einem Haus ins andere geht. — And 
venn der Dobtor es doch sagt —.“ 
„Ach, der Dobtorl!“ machte Wiesendaniel und schlug 
nit der Hand durch die Luft. „Wer sterben soll, der stirbt, 
den kann auch kein Dobtor halten.“ 
Seine Frau schüttelte den Kopf: „Wir müssen vorsichtig 
ein,“ sagte sie, „und glaub mir, Daniel, es steckt an.“ 
Da wurde Wiesendaniel ordentlich wild. — So eine 
leingläubigkeit. — Er schlug mit der Faust. auf den Tisch 
ind sah seine Frau an: „So sag mir doch, wo es zuerst 
ergebommen ist. — Schließ die Kinder ein, daß sie nicht 
inaus können! — Wenn sie krank werden sollen, werden 
ie es, und wenn sie sterben sollen, sterben siel Dann hat 
20 Gott so gewollt.“ 
Die Frau schwieg. Langsam ging sie nach der Hinter- 
tube, setzte sich auf einen Stuhl und nahm die Kaffeemühle 
wischen die Knie. And während sie die braunen Bohnen 
zurchdrehte, sah sie immerfort nach ihrem Mann, welcher 
am Fenster stand und die Stirne gegen die Scheiben preßte. 
Es ist nichts mit ihm anzufangen, dachte sie, er will nun 
einmal nicht an Ansteckung glauben. 
Plõtzlich horchte sie. — Sie sprang vom Stuhle auf, 
lief durch die Stube und stand neben ihrem Mann. Der 
1909
	        
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