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eimat· Schollen
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heĩmatkunst
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N Erscheinungsweise 2mal monatlich. Bezugspreis 1,20 Me. im Vierteljahr. Frühere l J
r. 1026 Jahrgänge bönnen, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen· Verlag nachbezogen werden 6. ahrgang
Jule Joler õ Von Adolf Häger.
In einem Weserstädtchen wohnte ein „Spittelsweibchen“
mit dem blangvollen Namen Jule Joler. Das uralte ver—
utzelte Weiblein verdiente ihren Lebensunterhalt durch
Kräutersammeln im Sommer und durch Stricken und Stopfen
im Winter. So war sie vielen Familien für Tage und
Wochen Hausgenossin. Dennoch hatten die meisten Ein⸗
wohner des Städtchens ein heimliches Grauen vor Jule
Joler. Wenn ihr nämlich irgendwo ein besonders guütes
Täßchen Bohnenbaffee geboten wurde und die Hausfrau ihr
bertrauenswürdig erschien, erzählte Jule Joler mit einer unheĩm⸗
lichen Gewißheit, wer in dem Jahre noch sterben wüͤrde
And das Fürchterliche war: es traf immer ein, wie Jule
Joler es gesagt hatte. Darum kam das winzige Persönchen
mit den seltjam großen klaren Augen, die gleichsam durch
Dinge und Menschen hindurchschauten, den Leuten ganz
aunheimlich vor.
Jule Joler war schon hoch in die Achtzig und ging
gebückt am Krückstock. Wenn sie nun die Kirchstraße vom
Heiligen-Geist⸗Spital hinaufstieg, dann blieb sie wohl bei
jeder Haustreppe stehen, verpustete sich ein wenig, hüstelte
trocken und witterie mit der spitzen —X—
herüber und hinüber. In den kleinen Gejsicht der Greisin
tanden die Bäckchen noch immer merbwürdig rot, die Augen
erschienen noch gröper und hatten immer noch den seltsamen
Slanz. Manchmai blieb sie plöhlich stehen unb fler⸗
geradeaus. Wen dann dieje Augen trafen, den wandelte
ein Grauen an, denn vielleicht — vielleicht erschaute sie seinen
eignen zubünftigen Leichenzugl —
Jule Joler stieg wieder einmal die Kirchstraße hinauf.
Es war noch ganz früh am Morgen, als die Sonne eben
die grünen Sandsteindächer auf der Westseite der Straße
aufleuchten ließ. Alle Fenster waren noch verhangen, und
lein Schornstein rauchte. Ein breitschultriger Mann über—
holte Jule Joler. Es war der Staͤdtschreiber Heinrich
Neddermaier.
„Guten Morgen, Jule Joler“ sagte er freundlich zu dem
Aeinen Persönchen hinunter.
„Guten Worgen, Heinrich Neddermaier!“ gab sie ihm
ertraulich zurück. Das nahm der Herr Stadtschreiber auch
jar nicht übel. War er doch Stadtkind und hatte Jule Joler
beĩ seiner Mutter manches Paar seiner zerrissenen Jungen-
trümpfe gestopft. 3
Der lebensfrohe Mann sagte also:
„Na, Juletante, wollen wir beide denn heute eine Früh⸗
tur machen?“
Jule Joler sah ihren Begleiter lange an.
„Sieben Schritte gehst du heute mit mir! Und wenn
du die sieben Schritte wieder zurückgehst, dann wirst du ein
inderer sein und dich nicht wieder finden, Heinrich Neddermaier!“
„Jule Joler, was redest du für ungewaschenes Zeugl“
sagte lachend und doch bekbllommen der Mann.
Nach sieben schlürfenden Schritten stand Jule Joler
vieder still. Es war an der breiten Freitreppe des Hauses
Mittendorf. „Halt!“ sagte Jule Joler und stieß knirschend
den Krückstock auf.
„Heinrich Neddermaier, siehst du was?“ —
And sie packte den Mann mit ihren dürren Greisinnen-
ingern an beide Ellenbogen und drehte ihn, halb dahinter
tehend, der Freitreppe zu.
Dem Staͤdtschreiber sträubten sich die Haare. Da oben
aten sich lautlos die braunen Eichentüren mit den blanben
Moessingbeschlägen auf. Heraus bam der erste Stadtgeistliche