Heimat · Schollen
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst
Ar. Jo / 1021
Erscheinungsweise 2mal monatlich. Se zugspreis 1.20 RM. im Vierteljahr. Frũhere
Jahrgänge bönnen, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen-Derlag nachbezogen werden
I. Jahrgang
Susanna Juliand
Don Georg Ploch.
Wer einmal an einem schönen, sonnenhellen Tage auf
den Einfall kommt, hinaufzusteigen auf den Turm, wo
zwischen altersschwarzen, tief gefurchten Balben die Glocken
hängen, dem wird wohl an der größten unter ihnen eine
Zeichnung auffallen, die ihn vielleicht einige Augenblicke
zu genauerer Betrachtung reizt. Über dem unteren, schartigen
Saum der alten Glocke stehen aufrecht zwei schlanke, wie
zu inbrünstigem Gebet ancinandergepreßte Hände. Aber
das Wunderliche ist, daß sich um die Handgelenbe eine
geflochtene Fessel schlingt, die in feiner, nur mäßig erhabener
Arbeit rund um die ganze Glocke läuft. Wer durch diese
Entdeckung neugierig gemacht, auf die alten Balben hinauf-
kletkert, um noch weiteres zu erkunden, der wird, wenn die
Beleuchtung günstig ist, am oberen Rand dicht unter den
eisernen Bändern, an denen die Glocke hängt, eine Inschrift
finden, und mit einiger Mühe wieder entziffern:
Susanna Juliana MCCXX.
Hat er dann nach dieser zweiten Entdeckung wieder festen
Boden unter den Füßen, und blickt er durch das offene
Schalloch auf die Häuser mit den Giebeldächern hinunter,
die von hier oben so blein erscheinen wie das Seitliche
neben dem Ewigen, so mag es seinem Nachdenkbken vielleicht
zustatten kommen, wenn gerade die Glocke zu läuten anhebt
und ein Schwarm weißer Tauben von dem Turmgemäuer
ohne Flügelschlag sanft in die Tiefe gleifet. „Susanna
Julianal“ ruft dann die Glocke, „Susanna Julianal!“ Ists
nicht wie ein Klang der Liebe durch die Jahrhunderte?
dejperglocke. Hatte nun der Küster einen besonders guten
krunk getan, der ihm übermäßige Kraft verlieh, oder trug
as alte, jchwache Glöckchen schon länger einen heimlichen
»prung im Leibe, genug, mit einem Wale gab es einen
lend falschen Klang, daß der Küster erschrocken das Seil
ihren ließ, aus dem Turm stürzte und sich die Ohren zu—
ielt, um nicht die schrecklichen Schläge hören zu müssen,
ie auch ohne seine Hilfe der fleißige Klöppel noch einige
eit weitertat. Der Junber ritt auf seinem Schimmel über
en Marbkt, als der seltsame Klang an sein Ohr schlug.
zestaunt wollte er den Kopf halb rückwärts nach dem
furme wenden, da hörte er über sich in einem Haus ein
jenster gehen. Er blickte hinauf, aber vergaß wohl, recht⸗
eitig die Augen wieder abzuwenden, denn oben schloß sich
lleich darauf das Fenster, und der blonde Kopf eines hoch⸗
ewachsenen Mädchens verschwand ebenso eilig, wie er er—
hienen war. „Eine zersprungene Glockel O weh, das ist
in schlechtes Vorzeichen für des Junkers Heimkbehr!“ dachte
er treue Kunz Pannkuche; aber er sprach es nicht aus,
im seinen lieben Herrn nicht zu betrüben. Auch wurde er
on jeinen Gedankben abgelenbkt durch die Frage des Junkers,
her wohl die fremde Jungfrau wäre, die soeben aus dem
enster geschaut habe. Kunz Pannkuche sagte, er gehe kaum
hhl in der Annahme, daß dies des Schöffen Schaufuß
sochter sei, die inzwischen sehr wohl zu einer so stattlichen
sungfrau herangewachsen jein kbönne. Dann ritten sie schweigend
oeiter, in der Kichtung nach dem Hause von Junker Volprachts
Nutter, der Diener ganz seinen Betrachtungen über das böse
orzeichen hingegeben, der Junber zweifelnd, ob ihn mehr die
esprungene Glocke oder der blonde Mädchenbopf oder der
evorstehende Empfang durch seine Mutter beschäftige.
In
Als der Junber Volpracht von Wickenborn nach mehr—
ähriger Abwesenheit in Begleitung seines treuen Dieners
Kunz Pannkuche in die Stadk einriftt, läutete gerade die