Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

Heimat · Schollen 
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst 
Ar. Jo / 1021 
Erscheinungsweise 2mal monatlich. Se zugspreis 1.20 RM. im Vierteljahr. Frũhere 
Jahrgänge bönnen, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen-Derlag nachbezogen werden 
I. Jahrgang 
Susanna Juliand 
Don Georg Ploch. 
Wer einmal an einem schönen, sonnenhellen Tage auf 
den Einfall kommt, hinaufzusteigen auf den Turm, wo 
zwischen altersschwarzen, tief gefurchten Balben die Glocken 
hängen, dem wird wohl an der größten unter ihnen eine 
Zeichnung auffallen, die ihn vielleicht einige Augenblicke 
zu genauerer Betrachtung reizt. Über dem unteren, schartigen 
Saum der alten Glocke stehen aufrecht zwei schlanke, wie 
zu inbrünstigem Gebet ancinandergepreßte Hände. Aber 
das Wunderliche ist, daß sich um die Handgelenbe eine 
geflochtene Fessel schlingt, die in feiner, nur mäßig erhabener 
Arbeit rund um die ganze Glocke läuft. Wer durch diese 
Entdeckung neugierig gemacht, auf die alten Balben hinauf- 
kletkert, um noch weiteres zu erkunden, der wird, wenn die 
Beleuchtung günstig ist, am oberen Rand dicht unter den 
eisernen Bändern, an denen die Glocke hängt, eine Inschrift 
finden, und mit einiger Mühe wieder entziffern: 
Susanna Juliana MCCXX. 
Hat er dann nach dieser zweiten Entdeckung wieder festen 
Boden unter den Füßen, und blickt er durch das offene 
Schalloch auf die Häuser mit den Giebeldächern hinunter, 
die von hier oben so blein erscheinen wie das Seitliche 
neben dem Ewigen, so mag es seinem Nachdenkbken vielleicht 
zustatten kommen, wenn gerade die Glocke zu läuten anhebt 
und ein Schwarm weißer Tauben von dem Turmgemäuer 
ohne Flügelschlag sanft in die Tiefe gleifet. „Susanna 
Julianal“ ruft dann die Glocke, „Susanna Julianal!“ Ists 
nicht wie ein Klang der Liebe durch die Jahrhunderte? 
dejperglocke. Hatte nun der Küster einen besonders guten 
krunk getan, der ihm übermäßige Kraft verlieh, oder trug 
as alte, jchwache Glöckchen schon länger einen heimlichen 
»prung im Leibe, genug, mit einem Wale gab es einen 
lend falschen Klang, daß der Küster erschrocken das Seil 
ihren ließ, aus dem Turm stürzte und sich die Ohren zu— 
ielt, um nicht die schrecklichen Schläge hören zu müssen, 
ie auch ohne seine Hilfe der fleißige Klöppel noch einige 
eit weitertat. Der Junber ritt auf seinem Schimmel über 
en Marbkt, als der seltsame Klang an sein Ohr schlug. 
zestaunt wollte er den Kopf halb rückwärts nach dem 
furme wenden, da hörte er über sich in einem Haus ein 
jenster gehen. Er blickte hinauf, aber vergaß wohl, recht⸗ 
eitig die Augen wieder abzuwenden, denn oben schloß sich 
lleich darauf das Fenster, und der blonde Kopf eines hoch⸗ 
ewachsenen Mädchens verschwand ebenso eilig, wie er er— 
hienen war. „Eine zersprungene Glockel O weh, das ist 
in schlechtes Vorzeichen für des Junkers Heimkbehr!“ dachte 
er treue Kunz Pannkuche; aber er sprach es nicht aus, 
im seinen lieben Herrn nicht zu betrüben. Auch wurde er 
on jeinen Gedankben abgelenbkt durch die Frage des Junkers, 
her wohl die fremde Jungfrau wäre, die soeben aus dem 
enster geschaut habe. Kunz Pannkuche sagte, er gehe kaum 
hhl in der Annahme, daß dies des Schöffen Schaufuß 
sochter sei, die inzwischen sehr wohl zu einer so stattlichen 
sungfrau herangewachsen jein kbönne. Dann ritten sie schweigend 
oeiter, in der Kichtung nach dem Hause von Junker Volprachts 
Nutter, der Diener ganz seinen Betrachtungen über das böse 
orzeichen hingegeben, der Junber zweifelnd, ob ihn mehr die 
esprungene Glocke oder der blonde Mädchenbopf oder der 
evorstehende Empfang durch seine Mutter beschäftige. 
In 
Als der Junber Volpracht von Wickenborn nach mehr— 
ähriger Abwesenheit in Begleitung seines treuen Dieners 
Kunz Pannkuche in die Stadk einriftt, läutete gerade die
	        
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