Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

Bändern gehaltene rote Müßchen, das die Mädchen und Kinder, 
die in der Tracht ũberhaupt allerliebst aussehen, iragen, jesjelt jo⸗ 
fort das Auge. Dabei hat die Schwaälmerin, die ũber den weißen 
Wadenstrũmpfen niedrige Schuhe mit bleinen Stöckeln trägt, einen 
ausgejprochen zierlichen Gang. Die volle Farbenpracht wird an 
Festtagen, bei Verlobung, Hochzeit, Taufe und bei den alljahrlichen 
Kirmesfesten zur Schau getragen. Dann bommen zu der reichen 
Festleidung noch wert 
bolle Ketten, Kopf- 
outz sowie Gold⸗ und 
Buntstickereien, „Eb- 
en“ und „Bretter“ 
genannt, die auf dem 
Kũcken und auf den 
Hüũften aufgelegt wer⸗ 
den. Und zum Lobe 
derschwãlmerinnen sei 
es gesagt, daß sie bis 
in die Neuzeit zumeist 
an ihrer Tracht fest- 
halten. Die Männer 
dagegen haben in den 
ietzten 530 Jahren dem 
alles gleichmachenden 
Geist der Reuzeit nicht 
tandgehalten, woran 
die nach 66 einge⸗ 
führte allgemeine 
Wehrpflicht die Haupt⸗ 
schuld trägt. Die 
jungen Burschen, die 
sich wãhrend ihrer 8- 
jährigen Dienstzeit 
an das Städtische ge— 
wöhnt hatten, wurden 
nach ihrer Räckkehr 
der heimatlichen Tracht 
nehr und mehr un— 
reu. Dazu kam, daß 
die Kleinbauern neben⸗ 
dei zumeist ein Hand⸗ 
verb betrieben, das 
jie meist mit den 
Stãdtern in Berũh⸗ 
eung brachte. Um 
1900 trugen von 300 
nãnnlichen Emwoh— 
nern nur noch 92 
Tracht. Nuch die 
rassigen Bauerntypen 
werden jehr selien, 
doch findet der Maler 
auch heute noch gute 
Modelle. 
Was auch immer 
n der Schwalm das 
Auge schaut, die 
Landschaft, das Dorf 
und jeine Bewohner, 
alles bietet reiche 
malerische Ausbeule. 
Fürwahr, es muß eine 
Lust gewesen sein, 
—A 
erisch zu entdecken, 
und diese Lust war 
Berhard von Keutern 
eschieden. 
Wer war denn 
aun dieser Gerhard 
oon Reutern“)? Es war einer von den Millionen Auslands⸗ 
deutschen, mit denen wir Reichsdeutschen uns jetzt, nach dem 
großen deutschen Unglück, viel enger verbunden fühlen als vor 
er. In den frũheren euͤssischen Gstjeeprovinzen, in Livland war 
Keutern 1794 von deutschen Eltern geboren. Als Leibhusar Lam 
zr in den Freiheitskeiegen nach Deutschland, verlor aber in der 
Ooͤlberschlacht beiĩ Leipzig seinen rechten Arm. Welch furchtbarer 
Schlag für einen Menschen, der den Maler in sich fühite. Keutern 
⁊) Vergleiche meine Nufsätze in Hessenbunst 1910 522. (N. G. Elwerts- Verlag 
Marburq-Sahn.) 
erzagte nicht. Schon wenige Tage nach seinem Anglück machte 
»r Dersuche, mit der linken Hand zu schreiben und zu zeichnen. 
lach einem Jahr war er mit der ÜUbung der linken Hand so 
veit fortgeschritten, daß er im Verlust der rechten bein Hindernis 
ũr seine Kunst sah und dem Gedanben nahetrat,. sich ihr ganz 
zu widmen. 
Nach Willingshausen bam Keutern zum erstenmal im Sommer 
1814, um seine VDer— 
—X 
zell zu besuchen. 
Eine doppelte Liebe 
sesjelte ihn bald an 
die Schwalm. 1820 
purde er mit der 
ũngsten Tochter des 
Schloßheren in Wil⸗ 
ingshausen getraut. 
Und die andere Liebe 
var die des Käünst- 
ers zur malerischen 
Schwãlmer Landschaft 
ind ihren Bewohnern. 
Fine Kunstschule hat 
Keutern niemals be— 
ucht; nur vorüber⸗ 
jehend hat er auf 
einen Keijsen in Bern, 
Dũsseldorf, Kasjel und 
VWeßlar bei nam— 
haften Malern gear⸗ 
beitet. Im übrigen 
ernte er Seichnen 
und Malen allein nach 
der Natur, „und nie⸗ 
nals hat ein Schũler 
dem besten aller Mei⸗ 
ter mehr Ehre 
gemacht.“ 
Am staärksten ist 
er vielleicht von Goe⸗ 
the, den er wieder— 
holt in Weimar be— 
uchte, beeinflußt und 
mmer wieder im 
Hlauben an seine 
rũnstlerijchen Fähig- 
reiten bestärbt worden. 
Seine ersten Schwäl⸗ 
mer Bilder von 1827 
und 28 sind künstle⸗ 
»isch noch nicht auf 
er Höhe der späteren 
Arbeiten, aber für die 
rachtenkunde von 
zroßem bulturgeschicht⸗ 
ichen Wert. Ich nenne: 
Hochzeitsgãste“ (vgl. 
Abb. — geschappelt: 
Anne Kathrin Ort 
u. Johann Riebeling), 
Eine Taufpatin in 
Schwälmer Tracht“ 
Liesbeth Daum), 
Trauerzug“ (Paul 
Dörr mit Frau und 
Tochter), „Eine Trau⸗ 
ung in Willingshau⸗ 
en“ (vgl. Abb. — Lud⸗ 
wig Dörr, Trinchen 
Neusel; Metropolitan 
5chanz aus Siegenhain traute), „Fritz v. Schwertzell auf der Jagd 
m freien Felde“ (im Willingshäuser Schloß befindlich), „Schwälmer 
Zauern in Sonntagstracht‘. Besonders gelobt wurde von Goethe 
»as Bild „Drei Schmalkalderinnen, Körbe verbaufend“, das auf 
in Marburger Erlebnis zurückgeht, uns aber leider nicht erhalten 
st. Auch das älteste Willingshäuser Landschaftsbild stammt von 
Keutern, der es Goethe schenkte. Es hängt noch jetzt im Goethe— 
aus in Weimar, und zwar im sogenannten Majsolikazimmer. 
Aus dem Jahre 1885 stammt die Darstellung einer Schwäl- 
ner Bauernfamilie bei der „Hausandacht“ (vgl. Abb., 2. Fassung 
G. v. Keutern: Die Strickerin 1839. 
MAus Hessenbunst 1922. (M. G. Elwert⸗Derlag Marburg-Lahn.)
	        
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