Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

Nach solchen Geschichten wurde die Stimmung sehr gedrückt, 
und manch Eine suchte auf dem Heimweg den lang begehrken, 
nãnnlichen „Schutz“, und im Traum hat sie dann vielleicht noch der 
armen Martlies eine stille Träne nachgeweint. 
Wie ein immersprudelnder Bronnen flossen die Worte der 
hlonden Annelore ũber die Lippen. In ihrem Erzählton lag ein 
angenehmer Klang. Daher mag es gebommen sein, daß ich gerade 
ihren Erzählungen mit geschärstem Ohr lauschte, besonders der 
grausigen Geschichte vom Förster Lenz: 
„Es war im tollen Jahre 1848. Mit der Hochachtung vor 
Obrigkeit und Gesetz war es auch im lieben Hejssenlande schlecht 
bestellt. Die Bauern wilderten, und alles war,vogelfrei“. BSe⸗ 
sonders war der „Schwarze Hain“ als Wilddieb weit und breif 
ꝛerũchtigt. Der Foörster Lenz hatte im „Umberg“ schon manche 
Stunde seines Schlafes geopfert, um dieses Menschen habhaft zu 
verden. Vergebens! Der „Schwarze Hain“ foppte und täuschte 
den Grünrock, wo er nur bonnte. Am Heiligen Abend war es 
gewesen. Es schneite, was nur herunter wollte. Und während 
in der Kirche das „Ehre sel Gott“ ertönte, fielen im Umberg kurz 
hintereinander drei scharfe Schũsse. 
Sis zum „Dunbelweg“ hatte sich Lenz geschleppt, dann war 
er zusammengebrochen. Kirchgänger fanden ihn am andern Morgen, 
die Hände gebrampft und das Gesicht im Schnee vergraben. Seit 
der Seit wandert der Geist des Ermordeten von der Abend— 
dämmerung bis zum Morgengrauen den „Dunkelweg“ hinauf und 
hinunter bis zur „Blauen Peisch“, um sich dort das BSlut abzu— 
waschen. Wer spät abends vom Nachbardorf Appenfeld Lommt, 
vählt lieber den Umweg, um nicht mit dem „Schwarzen Geist“ 
zusammenzutreffen. An der Stelle, wo der Förster lag, springt 
eit der Seit ein blares Quellchen aus dem Gartenrain, Lenz 
quelle“ genannt — —.“ 
Wie andächtig hatte ich der Lore zugehört. Gerade der 
„Dunkelweg“ war unsere schönste Kodelbahn. Sonne und Mond 
chienen kaum dahin, und die „Lenzquelle“ gerade schenkte uns 
das nõtige Glatteis. Wenn aber die ersten Abendglockenschläge 
der nahen Kirche erkönten, eilte jeder — die Mädels mit ängst- 
iichem Geschrei voraus — so rasch er nur mit Schlitten und Schhit— 
chuhen bonnte, auf dem geradesten Wege durch Gärten und Wiesen 
dem Hause zu mit dem Angjstruf: „Der schwarze Geist kommt! 
Der schwarze Geist bommt!“ 
Nicht so düster und schaurig wie die Geschichte vom „Lenz“, 
iondern heil und lieblich ist „Die Sage vom Predigerstuhl). 
„Es mag vor mehr als hundert Jahren gewesen sein. Der 
Winter hatte sich früh und schaärf eingessellt. Da trat baid Mangel 
an Brennholz ein. An gelinden Tagen eilten dann die armen 
Leute in den Wald, um Holz zu sammeln. Das war bald spärlich, 
oder es lag kief verschneit. Die beiden Kinder eines Korbmachers 
aus Raboldshausen haͤtten sich so tief verirrt, daß sie Leinen Aus- 
weg aus dem „Großen Walde“ finden konnten. In starker Dämme— 
eung erst kamen sie im verschneiten Walde an die Stelle, die man 
heute den „Predigerstuhl“ nennt. Die Kinder hatten schon alle ihre 
Gebete unter Tränen zum Himmel geschickt, und das Schwosterchen, 
»on Müdigbeit ũbermannt, iegte sich an den Weg unter die hohen 
Tannen, wo Laub und Moos noch etwas frei geblieben waren. 
Dem Bruder war es blar. daß sie hier nicht bleiben bonnten. 
Nachdem er das weinende Schwesterlein getrösiet, bletterte er auf 
einen Erdhügel, zog seine Mütze vom Kopfe. hob die Kechte zum 
rinzigen Sternlein, das am Himmel blinbte, und rief laut: „Lieber 
Bott, wenn du uns glücklich nach Hause führst, dann will ich 
delnen Namen preisen. Allen Menschen, auch den Heiden, will 
ich deinen Ruhm verbündigen.“ Dann weckte er das schlafende 
Kind, zog ihm das wärmende Tuch dichter um die Schultern und 
jagte;: Hast du gehört, was ich dem lieben Gott versprochen 
habe? Das will ich getreulich erfüllen, dann wird er auch meine 
Sitte erhören und uns jetzt den rechten Weg führen, homm!“ 
Dabei nahm er das Kind bei der Hand und sagté: „Lieber Gott, 
aun zeige uns den Wegl!“ Plötzlich war's, als ob der Wald in 
Feuer getaucht sei. Ein gewaltiger „Feuerbaum“ prasselte unter 
donnerähnlichem Getöse am Himmel hin. Eng schmiegien sich die 
Kinder aneinander; dann sagke der Bruder: Komm! Der liebe 
Gott hat geantwortet“, und er zog das ängstliche Kind in der 
Kichtung des Feuorbaumes fort. Nach mehr als zwei Stunden 
iahen sie die ersten Lichter und hörten das Kufen suchender Menschen. 
Mit Freudentränen schlossen die glücklichen Eltern die Kinder 
in ihre Aerme. Bald ward die Geschichte in der ganzen Um— 
gegend bekannt. Einer der Herren vom Schlosse Neuenstein 
*) Wir bringen diese bebannte Sage in der vorliegenden Fassung, weil sie dem 
abulierenden Volksmund zu enistammen scheint und doch ganz verschieden ist von 
den Fassungen W. Despers (Der Kreis Homborg, VOerlag Elwert, Marburg) und 
h. Ruppels (in KeVehrhan, Sagen aus Hessen und Nassau, Eichblatt. Verlag 
Leipzig). Vergl. auch Ne. 1 Jahrg. 6 der HeimatSchollen. 
hörte auch davon, ließ den Korbmacher mit dem Knaben zu sich 
wpmmen und sich alles haarblein berichten. Dann versprach er, 
ur die Ausbildung des Sohnes Sorge zu tragen. 
Ein Jahrzehnt und mehr verging. Ein herrelicher Julijonntag 
var ũber die Berge und Täler gekommen. Von überall hätte sich 
ine große Menschenmenge auf der Waldhöhe eingefunden. Unter 
»en Klängen aller Glocken der Umgegend hielt dort oben der 
orbmachersohn seine Danb und Abschiedspredigt. Da blieb bein 
Auge tränenleer. Mit einem Schiffe ist Kaspar nach Afriba 
gegangen“ und nie wieder zurũckgeblehrt. Den Wilden, denen er 
redigte, ist er zum Opfer gefallen. 
Sum Andenben an dieses wunderbare Ereignis krägt dieser 
Dlatz jür immer den Namen „Predigerstuhl“. 
Den „Predigerstuhl“ zu sehen, war nun der sehnlichste Wunsch 
neines Knabenherzens. Wie oft bin ich dann, als ich größer war, 
in der Hand meiner „Eller“, die ihre Verwandten in „Käckers“ 
Keckrode) und „Gittersdorf“ bei Hersfeld besuchte, an dem 
eedigerstuhl vorbeigegangen. Dann wußte auch die „Eiler“ so viel 
zu erzählen, daß man nie müde wurde, ihrem Wort zu lauschen. 
Die Sage von den Wichtelrainen. 
Der Wanderer, der auf weitem Weg von der Kreisstadt H. 
»urch mehrere Dörfer die Hänge des Knüllkopfes erblettert und 
en „Grundrain“ (wo es „wanert“) glücklich hinter sich hat, ist 
roh, wenn er auf den „grünen Bänben“ des Hirschberges“ sich 
in wenig ausruhen und verschnaufen bann. Richtet er dann den 
ßSlick gerade aus, so sieht er etwa 200 Meter aufwärts im Walde 
inter den silberglänzenden Stämmen der schlanken Buchen zwei 
unkle Felsen aufragen. Es sind die „Wichtelraine“, die geheim— 
usvolle Wohnung der Wichtelmännchen. FJeder eilt, um añn dieser 
Stelle des Waldes vorũberzukommen, damit ihm die Wichtel beinen 
ztreich spielen oder sich von ihm tragen lassen, wie es einmal dem 
jJakbob Kunz erging. 
Annelore bennt diese Geschichte: 
„Kommt der „Künze Jobbob“ an einem stürmischen Herbst- 
bend spät aus der Stadt zurũck, in der er „Geschäfte“ gehabt hat. 
taum hat er den Scheitt in den Wald getaän, ruft da eine ängst- 
jche Stimme seinen VNamen. Voll Mitleids ruft Künze Mann?: 
„Komm mit!“ Im NAu sitzt ihm ein Wichtel im Nacken und raunt 
hm zu, wenn er ihn mitnähme und wieder hierher trüge, solle er 
»ine Belohnung haben. 
Su Hause wartet die Annelies schon längst auf ihren Mann. 
Die Kinder sind zu Bett, und die Petroleumlampe ist am Erldschen. 
Zasch behrt Annelies zum Sonntag noch die Stube und steilt den 
Zehricht auf der Dreckschippe hinter die Stubentür. Da kbommi 
hr Mann mit der seltenen Last angestolpert. Des Scheltens ist 
ein Ende und Annelies wirft voller Wut mit der Drechschippe 
ach ihrem Mann. Schnell wendet sich Kunz und trägt die Last 
urück. Wieder zu Hause angebommen, sieht er neben der Stuben— 
ũr etwas blinken und leuchten. Blanbes Gold! Er erzählt es 
einer Frau. Schneller kam die noch nie aus dem Beti. Das 
ann nur Gold aus dem Kehricht sein! Aber wie sie auch sucht: 
don Schippe, Kehricht und Gold findet sie keine Spur mehr!“ 
Diese Geschichte der Annelore hatte mich neugierig gemacht, 
ind für den nächsten Sonntag wurde von meinen Schulkameraden 
eschlossen, dem Geheimnis auf den Grund zu bommen. 
Es waren uns wohl zwanzig und mehr Jungen, alle „schwer 
ewaffnet“ mit Stõöcken und Messern. Keiner von uns hatte die 
jeheimnisvollen Wichtelraine je gesehen! Langsam rückten wir 
»or, wie immer „Spohrs Hein“ und „Annchens Willem“* voran. 
Vir sind erstaunt ũüber den wunderbaren Aufbau der durch einen 
dohlweg getrennten „Burgen“. Die rechts ist größer und schöner 
ind aus lauter faustgroßen, rhomboidförmigen Granitstückchen dach- 
iegelartig aufgebaut. Anmõglich, auch mit Hilfe des Messers 
inen dieser Steine aus seiner Fuge zu lösen. 
Während so die einen versuchen, stehen die andern von ferne, 
ind nur langsam rũcken sie näher. Aber schon ist „Spohrs Hein⸗ 
nuf die Burg geblettert. Einzelne ihm nach. Ba bemerbten sie 
inter den Wurzeln der alten Eiche ein Loch, das schräg von oben 
n die Burg geht. „Kommt mal hierher, hier kriechen sie reins“ 
Das war eine mübsame Kletterei. Gerade groß genug ist das 
doch, um einen Wichtel hindurchschlüpfen zu lassen. Daß nur 
einer heraus kommtl Doch nein, die bewachen doch die goldne 
Weife“ und das goldne Spinnrad. Irgendwo poltert ein Stein 
ibwärts. Plõötzlich schreit einer: „Sie bommen, sie bommen!“ 
Nach aͤllen Himmelsrichtungen stiebt die Schar auseinander, 
uind erst nach langer Seit jammein wir uns auf den „Nebelwiesen“. 
Nie wieder haben wir uns in die Nähe der „Wichtelraine“ 
sewagt, und erst der Gedanbe, daß die hohe Försterei die Burg 
prengen und die goldne „Weife“ (Haspel) und das Spinnrad 
erausholen würde, hat uns allmählich wieder beruhigt.
	        
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